Thinking Together
Of Time Immemorial I
Der 21. März ist der Thinking Together-Konferenz gewidmet. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird das Festivalthema in Vorträgen beleuchtet.

Ausschnitt aus einem Blattskelett
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- In englischer Sprache mit Synchronübersetzung ins Deutsche
Vergangene Termine
Thinking Together 2020 beschäftigt sich mit einer einfachen und wirkmächtigen Idee: dem Anfang der Welt und der Zeit selbst. Diese Vorstellung ist so verbreitet und naturalisiert, dass ihre Besonderheit, ja Absonderlichkeit, leicht unbemerkt bleibt.
Nina Lykke
Algae Time – A Triptych
Audiovisuelle Intervention
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C. K. Raju
The Politics of Creationism: from John Philoponus to Stephen Hawking
Die quasi-zyklische Vorstellung der Zeit war einst der weit verbreitete Zeitbegriff, dargestellt durch Symbole wie den Ourobouros (ein Symbol für Ewigkeit & Unendlichkeit), den Nataraja (Tanzender Shiva), das buddhistische Rad der Zeit (Ashok Chakra) oder in Sufi-Gedichten wie denen von Rumi bis hin zu Bollywood-Liedern der 1960er Jahre. Dieser Glaube an die quasi-zyklische Zeit war auch Teil des vor-nicäanischen christlichen Glaubens, wie dem von Origenes. Dies wurde von Augustinus in eine lineare, apokalyptische Zeitvorstellung umgewandelt, da die nichtlineare Zeit eine Infragestellung der kirchlichen Moral zur Folge hatte. Die zugrundeliegende Politik war, dass quasi-zyklische Zeit mit Gerechtigkeit und apokalyptische Zeit mit Ungleichheit verbunden wurde. Dies führte zum ersten Schöpfungskonflikt, bei dem John Philoponus die Überzeugungen von Proclus (von quasi-zyklischer Zeit) mit der Begründung bestritt, dass eine ewige, „ungeschaffene“ Welt im Widerspruch zum Begriff der Schöpfung in der Bibel stand. Dies war lange vor dem Schöpfungskonflikt zwischen der darwinistischen Evolution und der biblischen Schöpfung in den USA. Nur wenige wissen jedoch, wie sich dieser Konflikt auf die moderne Physik von Stephen Hawking ausgewirkt hat, nämlich durch die Metaphysik der Unendlichkeit in der formalen Mathematik, die ich zu erklären versuchen werde. Zugrunde liegt hier die Bestrebung, die Glaubwürdigkeit eines bestimmten politisch motivierten Verständnisses von Religion mithilfe der Wissenschaft zu rechtfertigen.
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Tamara L. Bray
Archaeology, Temporal Complexity and the Politics of Time
Zeit ist grundlegend für die Idee der Archäologie und die Art und Weise, wie wir Zeit verstehen, beeinflusst die Art und Weise, wie wir uns auf die materiellen Überreste der Vergangenheit beziehen und sie interpretieren. Aber der Begriff der Vergangenheit sowie Zeit und Zeitlichkeit im Allgemeinen sind Konzepte mit einer besonderen Geschichte, Kultur und Politik. Für viele Völker der Welt ist die Vergangenheit, um es mit William Faulkner zu paraphrasieren, nicht tot – tatsächlich ist sie nicht einmal vorbei. Wie verschiedene Historiker vorgeschlagen haben, ist Geschichte etwas, das uns vor einigen Jahrhunderten hinterlassen wurde, und das uns ein chronologisches Zeitgefühl vermittelt, welches sich von Konzepten des Immanenten, von verkörperter oder undenkbarer Zeit unterscheidet, mit denen andere Kulturen operieren. In diesem Vortrag möchte ich einige Fragen im Zusammenhang mit dem Zeitverständnis der indigenen Bevölkerung hervorheben: die Idee der zeitlichen Heterogenität, die Unterschiede in den von menschlichen sowie nichtmenschlichen Mitgliedern der Gesellschaft erlebten und reflektierten Zeitlichkeiten und den politischen Aspekt der Zeit. Anstatt Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte als absolut und universelle Kategorien anzusehen, ist es wichtig, nicht nur die Einsichten und Kritiken archäologischer und ethnographischer Studien zu berücksichtigen, sondern auch jene, die innerhalb der modernen Physik und der Biowissenschaften sowie in Bezug auf Konzepte wie Raumzeit, Relativitätstheorie und Verschränkung (Entanglement) auftauchen. Offen für die Möglichkeiten divergenter und multipler zeitlicher Ontologien zu sein, ist wesentlich für die kontinuierliche Entwicklung einer kritischen Selbstreflexion in der Disziplin der Archäologie sowie für uns und unseren Planeten.
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Rolando Vázquez
Beginning, precedence and decoloniality
In diesem Vortrag werden wir die Frage des Anfangs aus einer dekolonialen Perspektive ansprechen. Welche Funktion hat die Idee des Anfangs in der Moderne? Was ist die Kolonialität der Idee des Anfangs in der Moderne? Wie reagiert der dekoloniale Diskurs auf diese modern-kolonialen Vorstellungen? In diesem Vortrag gehen wir davon aus, dass in der modernen Kontrolle über die historische Realität die Idee des Beginns die Funktion hatte, die Konfiguration der Moderne gleichsam zu legitimieren und zu kritisieren, indem sie entweder westlich zentrierte monokulturelle Teleologien ihrer Entstehung erzählte oder nach komplexen Genealogien suchte, die seine wichtigsten Grundsätze denaturalisieren. In beiden Fällen wird die Moderne als Gegenwart der welthistorischen Realität zum Mittelpunkt der Suche nach Anfängen oder der Zeichnung ihrer zerstreuten Genealogie. Wenn wir nach der Kolonialität des Anfangs fragen, geht es uns eher um die Auslöschung anderer Geschichten, und zwar nicht nur bezüglich ihrer Auslöschung aus den historischen Erzählungen der Moderne (teleologisch oder genealogisch), sondern auch bezüglich der Auslöschung ihrer Möglichkeit, historische Wirklichkeit zu werden. Es ist der Verlust der Möglichkeit des Entstehens, der Verlust der Möglichkeit des Beginns, des Werdens der Welt, wie die Kolonialität sie nennt. Der Anfang handelt hier also nicht so sehr von etwas historisch Erzähltem (dem Anfang oder dem Ursprung), sondern von der Verbalität des Anfangs und des Ursprungs. Die Kolonialität präsentiert sich als Exil anderer Welten aus der historischen Realität, als Trennung alternativer Wege in die Gegenwart. Die Dekolonialität reagiert auf die modern-koloniale Ordnung, indem sie sich mit der Frage des Vorrangs befasst. Die Frage des Vorrangs ist keine Suche nach dem Anfang, sondern ein Bewusstsein für die Hoffnung, die in der radikalen Vielzahl von Zeiten verborgen ist. Die Dekolonialität zeugt von der anhaltenden Zeitlichkeit der Kolonialwunde, einer Zeitlichkeit, die die Grenzen dessen überschreitet, was gewaltsam zur Gegenwart der welthistorischen Realität geworden ist. Dekoloniale Wiedereingliederung ist kein Anspruch auf Herkunft, sondern eine Antwort auf das, was aus der Geschichte gestrichen wurde, ein Aufruf zur Heilung und Wiederbestimmung. Der dekoloniale Anfang ist kein Substantiv, sondern eine Verbalität, ein Prinzip der Geburt für das Aufblühen anderer Wahrnehmungs- und Bedeutungswelten.
Programm
14:00
Algae Time – A Triptych
Audiovisuelle Intervention von Nina Lykke
14:30
The Politics of Creationism: from John Philoponus to Stephen Hawking
Mit C. K. Raju (IND)
16:00
Archaeology, Temporal Complexity and the Politics of Time
Mit Tamara L. Bray (USA)
17:00
Beginning, precedence and decoloniality
Mit Rolando Vázquez (MEX/NL)