Étienne-Nicolas Méhul

Hector Berlioz verehrte ihn, Johann Wolfgang von Goethe ließ Opern von ihm in Weimar aufführen, Carl Maria von Weber dirigierte sie in Dresden, Franz Schubert, Robert Schumann und Johannes Brahms schätzten ihn: Étienne-Nicolas Méhul, der am 22. Juni 1763 im kleinen belgischen Ort Givet in den Ardennen geboren wurde. Bereits als Zehnjähriger versah er den Dienst eines Organisten an der Orgel der Franziskanerkirche seines Heimatortes. 1778 übersiedelte er für immer nach Paris, wo er von einem Schüler Christoph Willibald Glucks weiter ausgebildet wurde und in der Begeisterung für das Glucksche Opernschaffen frühzeitig selbst für die Bühne zu schreiben begann.

Im Laufe seines Lebens komponierte Méhul an die 40 Opern, von denen allerdings nur wenige wirklich dauerhaften Erfolg erzielten. Als sein wohl bedeutendstes Bühnenwerk gilt „Joseph en Egypte“ (1807), mit dem Carl Maria von Weber unter dem Titel „Jakob und seine Söhne“ am 30. Januar 1817 seine Tätigkeit in Dresden an der von ihm geleiteten Deutschen Oper im Morettischen Theater aufnahm. Die seinerzeit viel gespielte dreiaktige Oper spiegelte mit ihrem alttestamentlichen Sujet, seit Napoleon in Frankreich Religionsfreiheit gewährt hatte, das Lebensgefühl einer ganzen Epoche wider.

Von 1790 an wurden fast alljährlich neue Opern und Ballette Méhuls in Paris aufgeführt. Was letztlich die Popularität des Komponisten ganz wesentlich förderte, war 1793 seine Entscheidung, als Komponist an den staatlichen Revolutionsfeiern und –festen teilzunehmen. Dafür komponierte er die „Hymne à la raison“ und gleich im nächsten Jahr den berühmten „Chant du départ“, der seitdem stets bei derartigen Gelegenheiten gesungen wurde, und neben der Marseillaise von Rouget de Lisle las einer der beliebtester Massengesänge in Frankreich galt. Méhul schuf in der Folgezeit zahlreiche weitere, dem politischen Tagesgeschehen verpflichtete Werke, patriotische Hymnen, Kantaten und dergleichen, die oft mit gewaltigem vokalen und instrumentalen Aufwand aufgeführt wurden.

Méhul war durchaus ein republikanischer Künstler von Überzeugung, der seinen kompositorischen Stil mit den Worte Einfachheit, Größe und Entschlossenheit beschrieb. Auch war er an der Fortführung der französischen Tradition programmatischer Musik sowie an Neuerungen in Harmonik, Melodik und Orchestrierung interessiert. Um eine bestimmte Stimmung, etwa das so genannte Ossianische Halbdunkel in seiner Oper „Uthal“ (1806) zu erzielen, verzichtete er beispielsweise in der Streicherbesetzung des Orchesters ganz auf Violinen. Brahms, dem die Partitur imponierte, hat später im „Deutschen Requiem diesen ungewöhnlichen Klanguntergrund für den 1. Satz „Selig sind, die da Leid tragen“ ebenfalls gewählt.

Den mit Abstand größten Teil des erhaltenen Œuvres Méhuls bilden die Bühnenwerke, darunter die Revolutionsoper „Horatius Coclès“ (1794) mit ihrer Verherrlichung demokratischer Bürgertugenden, gefolgt von vielen politischen Gelegenheitskompositionen, denen gegenüber die Symphonik (nur zwei von sechs Symphonien sind erhalten, die eine Nähe zu Haydn und Beethoven zeigen) und die Kirchen- und Klaviermusik einen geringen Platz einnehmen. 1795 wurde der Komponist einer der Inspektoren des reorganisierten Konservatoriums sowie Mitglied der Akademie der Schönen Künste in Paris. Er galt neben François-Joseph Gossec, André-Ernest-Modest Grétry und Luigi Cherubini als der führende französische Komponist zur Zeit der Revolution.

Als nach „Joseph“ (1807) der Erfolg auf dem Theater ausblieb – der Geschmack der Pariser hatte sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem Italiener Gaspare Spontini zugewendet –, verfiel er der Melancholie. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und widmete sich der Züchtung von Blumen. Am 18. Oktober 1817 verstarb er in Paris.

Quelle: Dieter Härtwig in Dresdner Neuesten Nachrichten vom 22.06.2013

Stand: November 2019