Lee Mingwei
Fabric of Memory (2006/2020)
„Die Inspiration zu Fabric of Memory war mein allererster Tag im Kindergarten. Weil ich nicht hinwollte, sagte meine Mutter, ich solle mir vorstellen, die Jacke, die ich trug, sei sie und würde mich den ganzen Tag umarmen. Schließlich willigte ich ein, zu gehen. Sie hatte sechs Monate lang nähen gelernt, um meine Kleidung für diesen Tag herstellen zu können.“ – Lee Mingwei
Im Herbst 2019 veröffentlichte Lee Mingwei Open Calls für drei Projekte der Ausstellung 禮 Li, Geschenke und Rituale. Für Fabric of Memory bat er Freiwillige darum, bei sich zu Hause nach Gegenständen aus Stoff zu suchen, die geliebte Personen oder Vorfahren für sie angefertigt hatten. Eine von Lee getroffene Auswahl dieser Gegenstände und die dazugehörigen persönlichen Anekdoten werden im Gropius Bau in Holzkisten ausgestellt. Diese Objekte lassen sich nun auch online entdecken.
Fabric of Memory wurde erstmals 2006 in Liverpool realisiert, einst ein Ort florierender Baumwollindustrie. Auch Berlin hat eine historische Verbindung zur Textilproduktion. Im 19. Jahrhundert erfanden die Warenhäuser am Hausvogteiplatz das Konzept der Konfektionsmode. Während des Dritten Reichs wurden die in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte jedoch systematisch zerstört. Heute erinnert ein zweiteiliges Denkmal am Hausvogteiplatz an die Geschichte dieser ehemaligen Hochburg der Mode.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020
Foto: Laura Fiorio
Mütze
Katja wohnte ein paar Häuser weiter. Sie war nur ein Jahr jünger als ich und starb viele Jahre vor mir. Wir trafen uns zum Sport, an trägen Sonntagnachmittagen guckten wir zusammen mit unseren Geschwistern fern, in den Ferien war sie die nächste Freundin: rüberlaufen, spielen, ganz einfach. Als ich schon lange nicht mehr da wohnte, erkrankte sie an Leukämie. Mir wurde später berichtet, dass sie alles tapfer durchstand und dass es ein Infekt war, der ihr kurz vor der letzten Behandlung die Lebenskraft raubte. Ich wohnte damals in Japan, weit entfernt, alle Nachrichten erreichten mich wie ein Echo, verspätet, und der Nachhall war so stark, dass ich nicht wusste, was ich zurückrufen sollte.
Ich weiß nicht, wie viele Jahre seit Katjas Tod vergangen sind. Zwanzig? Schon? Neulich besuchte ich meine Mutter. Sie war umgezogen, hatte ihren Keller ausgemistet. Dort fand sie ein altes Strickmuster, das Katjas Mutter ihr vor Jahren, beim Ausmisten ihres Kellers geschenkt hatte: Katja hatte daran während ihrer Chemo-Therapie gearbeitet, Vögel, Blumen so groß wie Bäume, viel Luft. Was tut man mit einer Handarbeit, in der jede Masche mit einer Hoffnung verbunden ist? Meine Mutter nähte daraus eine Mütze. Diesen Winter führe ich sie spazieren. Etwas enorm Positives geht von ihr aus, auch wenn sie mir meistens über die Augen rutscht. Katjas gute Wünsche halten mich warm.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Mütze

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Monddecke
Monddecke
Ich bin Kiran, geboren im Jahr des Kaninchens. Dies ist meine „Monddecke“. Sie sieht aus wie ein Himmel mit Monden aus Reis und Regen. Meine Mama lebte lange Zeit in Asien. Vor meiner Geburt kam sie nach Berlin, aber sie konnte damals nicht gut schlafen. Sie schrieb eine Geschichte für mich über ein kleines schlafloses Kaninchen, das jede Nacht vom Mond abgeholt wird, um durch den Himmel zu reisen.
Es ist eine lange Geschichte. Kurzgefasst: „Die Familie des Kaninchens lebte in Ryukyu und konnte nicht schlafen. Schließlich fanden sie ein Zaubergras, welches das Geheimnis des Schlafens in sich trug. Eine nette Dame machte daraus eine Decke, und als sie sich darunter kuschelten, schliefen sie endlich ein. Nachts sahen das kleine Kaninchen und der Mond viele traurige Kinder. Das Kaninchen bat die Dame, noch mehr Decken zu machen. Nachts fliegt es mit dem Mond umher, um den Kindern die Decken zu bringen, damit sie wieder friedlich schlafen können.“
Wir gingen in ein altes Museum in Bengalen, um uns schöne Tücher und ihre Geschichten anzuschauen. Dort sind Decken bedeutungsvoll. Die Leute geben sie weiter an die nächste Person, die Mutter dem Kind und so weiter. Danach nähte meine Mami meine Decke Stück für Stück zusammen mit verschiedenen Leuten in den Bergen. Sie wollte, dass ich mich warm und behütet fühle und glückliche Erinnerungen damit bewahre. In der Dunkelheit kann ich die weichen Monde mit meinen Fingern fühlen. Ich kann mich mein ganzes Leben lang darin einwickeln oder sie später meinem Kind geben.
Monddecke
Kurzlesung von Co-Kuratorin Clare Molloy
Eine Decke und eine Geschichte über ein kleines schlafloses Kaninchen: Im Rahmen der digitalen Aktivierungen von Lee Mingweis Einzelausstellung 禮 Li, Geschenke und Rituale liest Co-Kuratorin Clare Molloy die Geschichte zur „Monddecke“ vor, die im Gropius Bau ausgestellt ist.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Lederhose
Lederhose
Eine stabile Hose, die ich nur ab und zu einfetten muss, die nicht kaputtgehen kann, wenn mein Kind mal wieder nur auf den Knien unterwegs ist, die habe ich mir immer gewünscht. Mein Vater hat mir diesen Wunsch erfüllt. Er nähte sehr viel für uns, Gürtel, Taschen, Rucksäcke. Mein Vater hatte sich das Nähen selbst beigebracht, indem er seiner Mutter oft zuschaute, sie war Schneiderin. Zu seinem 50. Geburtstag schenkten meine Geschwister und ich unserem Vater eine Ledernähmaschine, damit das mühselige von Hand Nähen ein Ende fand.
„Ich nähe dir eine Hose für dein Kind, bring mir ein Muster!“ Es sollte auch noch ein Windelpopo reinpassen. Er fertigte ein Schnittmuster an und besorgte das Leder. Es musste weich sein, damit sich mein Kind gut drin bewegen konnte, aber dennoch stabil, damit es hielt. Der Bund musste weit bleiben, damit man die Hose gut an- und ausziehen konnte, deshalb brauchte sie auf jeden Fall Hosenträger. Die Hose wuchs praktisch mit, unten wurde umgekrempelt. Mein Kind hat sie sehr lange und gern getragen.
Wenn ich die Hose ansehe, denke ich an meinen inzwischen verstorbenen Vater, ich rieche seinen typischen Geruch, Zigarre und Pfeife, Leder und Sattelfett. Er wäre heute 94 Jahre alt, die Hose ist 25.
Bestickte Schrankborte
„Was Mütterlein mir einst beschert, / halt ich in diesem Schranke wert, / Soll glatt und fein geordnet sein, / Wies’ [sic] einstens hielt mein Mütterlein” – diese Stickerei zierte die Regale eines schweren Schranks, dem Stolz meiner nordfriesischen Großmutter. Meine Familie ist unsicher, wer die Borte gestickt hat (übrigens mit falsch gesetztem Apostroph). Wir denken, sie stammt aus der Aussteuer meiner Urgroßmutter. Im Alter zog Oma, an Demenz erkrankt, ins Pflegeheim. Der Schrank kam mit.
Meine Mutter nahm die mittlerweile vergilbte Borte einmal ab, wusch und stärkte sie liebevoll. Sie gab sie mir zu einem Besuch im Heim wieder mit. Oma lobte mich überschwänglich, als ich die Borte befestigte. Dass der Dank ihrer Schwiegertochter gebührte, kam nicht an, egal wie oft ich es wiederholte. Bei jedem Besuch gab es wieder Lob für mich. Demenz ist eine erbarmungslose Krankheit. Für meine Mutter und mich ist es dennoch eine lieb gewonnene Anekdote geworden.
Trotz der inspirierenden Schrankborte bezweifle ich, dass Oma eine begeisterte Hausfrau war. Gerne wäre sie Lehrerin geworden. Im Krieg arbeitete sie als Aushilfslehrerin. Sie wurde dann Bauersfrau. Aber ich denke, sie wäre auch eine fantastische Grundschullehrerin gewesen. Als Oma starb, durfte ich die Stickerei als Andenken behalten. Nun ziert sie in unserer Berliner Wohnung Regale voller Dinge, die Mütter, Großmütter und Urgroßmütter uns beschert haben.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Schrankborte

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Matrosenkleid
Kleiner Matrose
Als ich elf Jahre alt war, meldete ich mich bei der Theatergruppe meiner Schule an. Wir spielten C'era due volte il Barone Lamberto von Gianni Rodari, die Geschichte eines alten reichen Mannes, der wieder zum Kind wird. Ich wurde ausgewählt, den Baron zu spielen, und in der letzten Szene sollte ich als Kind verkleidet die Bühne betreten. Meine Großmutter nähte für mich ein Matrosenkleid, wie es für reiche Kinder zu ihrer Jugendzeit – Anfang des 20. Jahrhunderts – modern war. Sie brauchte nur eine Nacht dafür. Damals konnte sie nicht wissen, dass ich nach dieser ersten Theateraufführung noch oft auf der Bühne stehen würde. Mit meinen elf Jahren wusste ich das auch nicht.
In meinen Zwanzigern bewarb ich mich an der Theaterakademie und begann, als professioneller Schauspieler zu arbeiten. Als ich mit dreißig nach Berlin zog, nahm ich das Matrosenkleid mit. Ich erinnere mich, dass ich dachte: „Es wäre so cool, es im Kit Kat Club zu tragen“. Das habe ich nie getan. Das hübsche weiße Matrosenkleid blieb gut geschützt in meiner Schublade und erinnert mich an die Zeit, wie ich als pummeliges, schüchternes Kind oft von älteren Jungs gehänselt wurde. Da spielte ich zum ersten Mal eine Hauptrolle. Es erinnert mich auch daran, wie fürsorglich und praktisch meine Oma war. Sie nähte das Kleid, ohne meine Maße zu nehmen, weil sie mich so gut kannte. Als meine Großmutter vor zwei Jahren starb, hatte ich das Gefühl, dass sie das pummelige, verträumte Kind für immer mit sich mitnahm.
Kleiner Matrose
Kurzlesung von Co-Kuratorin Clare Molloy
Handgefertigte Kleidungsstücke erzählen besondere Geschichten – und sind meist mit ganz besonderen Erinnerungen verbunden. Co-Kuratorin Clare Molloy liest hier die Geschichte zum Matrosenkleid vor, das für Lee Mingweis Arbeit Fabric of Memory eingereicht wurde.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Kindergartenschürze
Kindergartenschürze
Fartuszek nennt man in Polen eine kleine Schürze, die Kinder in den Zeiten des Kommunismus im sozialistischen Kindergarten täglich tragen mussten. Er hatte einen eingestickten Namen und eine kleine Tasche, um das Pausenbrot oder Taschentücher darin tragen zu können. In den meisten Fällen wurde er zu Hause von den Müttern genäht. Mein fartuszek war ein ganz besonderer. Meine Mutter war damals in Poznan, Polen, wo ich bis zu meinem dritten Lebensjahr aufwuchs, eine Kunststudentin, die nicht viele finanzielle Mittel zur Verfügung hatte. So beschloss sie, meinen kleinen Kittel aus Stoffresten ihres Hochzeitskleids zu nähen.
Dieses Kleid, welches sie trug, als sie schon im vierten Monat mit mir schwanger war, hatte sie aus einer ausrangierten Gardine genäht, die im Wohnzimmer ihrer Mutter, also meiner Großmutter hing.
Als wir im Jahre 1980 dann im grünen Fiat Uno mit mir versteckt im Kofferraum nach Westdeutschland flüchteten, nahm meine Mutter auch diese kleine Schürze mit, die ich jedoch nie wieder nötig hatte, da in Berlin jeder im Kindergarten die Kleidung tragen durfte, die ihm gefiel. Bis heute kann ich mich nicht von meinem fartuszek trennen.
Kleid
Meine Mutter, Ethyl Gooch, machte diesen Nylon-Seersucker-Morgenmantel 1956 für meine Hochzeit. Ein Jahr lang nähte sie Hochzeitskleider, Brautjungfernkleider, Sommerkleider und Röcke, da die Hochzeit meiner Schwester sechs Monate später im selben Jahr stattfand. Viele Meter Stoff und Garn wurden geschnitten; es waren die 1950er Jahre. Bedauerlicherweise starb meine Mutter 1983, aber ihre Antwort wäre gewesen, dass die Herstellung von all den Kleidern für ihre zwei Töchter ein reines Vergnügen und Belohnung dafür war, sie an ihren Hochzeitstagen vor den Altar treten zu sehen.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Keid

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Lieblingsjacke
Lieblingsjacke
Diese Jacke und ein paar Fotos sind die einzigen Gegenstände, die mir bis heute aus der Kindheit geblieben sind. Sie haben mich wie Fetische seitdem als Künstlerin auf meinem Weg durch die Welt begleitet. Ich wurde 1966 in Siauliai, in Litauen geboren, das damals noch unfreiwillig Teil der UdSSR war. Die Mangelwirtschaft während meiner Kindheit und Jugend hat dazu geführt, dass ein lastendes Grau meine Erinnerung dominiert. Diese Jacke war meine Lieblingsjacke; eine andere gab es auch gar nicht. Sie musste reichen von zwei bis fünf Jahren, am besten noch bis fast zur Einschulung. Deshalb hat meine Mutter die Ärmel immer wieder und wieder verlängert.
Als ich nach dem Fall der Mauer als Künstlerin nach Deutschland übersiedelte, hatte ich im Gepäck nur wenige meiner Kunstobjekte, diese Jacke und ein paar Fotos zur Erinnerung, woher ich komme. In den Folgejahren 1997-2010 hat mich diese Jacke in meinem ortlos unsteten Künstlerleben bei den Umzügen nach Buenos Aires und nach Windhoek und zurück nach Hamburg begleitet, bevor ich 2014 dauerhaft bei Berlin gelandet bin. Meine Kunstobjekte wurden verkauft oder umzugshalber in Performances „entsorgt“ oder gar verbrannt, die Jacke aber war immer dabei, als Fetisch gewordener Fixpunkt in meinem Leben.
Hochzeitsbluse
Wir haben im Mai 1975 in Halle geheiratet, es war eine kleine Hochzeit, wir waren Studenten und hatten wenig Geld, unser Sohn war gerade zwei Monate alt. Trotzdem sollte die Trauung etwas Besonderes sein. Ein weißes Prinzessinnengewand kam für mich nicht in Frage, die Auswahl in den Geschäften war klein, die wenigen Stücke ziemlich hässlich. Schließlich entschieden wir uns für einen langen weißen Rock und suchten die passende Bluse. Wir fanden einen hauchzarten gemusterten Seidenstoff, ein Traum für eine andere Art von Prinzessin. Was tun mit zwei Meter Seide? Am besten sah es einfach ungenäht und gewickelt aus, aber das war entschieden zu unkonventionell.
Wir besorgten einen Schnitt und mein Mann nähte die Bluse am Abend vor der Hochzeit zusammen, erstaunlicherweise hatte er die Erlaubnis zur Nutzung der Nähmaschine meiner Mutter bekommen, die ich nie benutzen durfte. Es sah gut aus, aber später habe ich mich oft gefragt, warum wir nicht den Mut hatten, den Stoff einfach um den Oberkörper zu wickeln. Wir waren einfach jung und unsicher. Später habe ich oft sehr experimentelle Kleider gestaltet, manchmal haben wir zusammen, dann auf meiner eigenen Nähmaschine genäht.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Hochzeitsbluse

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Rock
„Mädchen in Uniform“-Rock
Als ich ungefähr 14 war, durfte ich ein Rock-Modell entwerfen, das meine Oma für mich nähen würde. Sie war Damenschneiderin und immer auf höchste Qualität bedacht. Ich wünschte mir einen Rock nach dem Vorbild der Kostüme aus dem Film Mädchen in Uniform (1958), um den Film, in den ich damals am liebsten selbst hineingeschlüpft wäre, ein Stück in die Wirklichkeit zu holen: Romy Schneider liebt ihre Lehrerin – ganz offiziell im Kino! Das Besondere an dem Rock war eine Schürze vorne und hinten. Auch der gestreifte Uniform-Charakter war mir wichtig.
Beim Auswählen der Stoffe im fränkischen Modehaus Fiedler mit meiner Oma kam es meistens zu Auseinandersetzungen, da meine Vorstellungen oft nicht ihren professionellen Ansprüchen entsprachen, was zwangsläufig Kompromisse im Hinblick auf Stoffwahl und Schnitt zur Folge hatte. Entstanden ist dieser Rock, mit Schürzen aus Rohseide. Ich weiß noch, dass er mich zwar tatsächlich an den Film erinnerte, sich aber in der Taille ein bisschen zu sehr aufplusterte und ich mich darin unfreiwillig plumper fühlte als erhofft.
Der Rock passt mir schon lange nicht mehr. Trotzdem bringe ich es nicht übers Herz, ihn wegzugeben, weil darin nicht nur meine seit 22 Jahren verstorbene Oma, ihre Schneiderkunst und matriarchalische Autorität weiterleben, sondern auch meine erste Ahnung davon, dass sich auch andere Mädchen in ihre Lehrerin verlieben.
Kittel mit Taschen
Ich hatte eine Faszination für Brüste. Als ich als Baby anfing zu krabbeln und meine Umgebung zu erkunden, habe ich eines Tages, als der Rest meiner Familie eine Pause vom Krocketspiel auf dem Rasen machte, angefangen, die Krocketbälle aufzusammeln und sie vorne in mein Oberteil zu stopfen. Es dauerte nicht allzu lange, bis mein Oberteil so voll war, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, und so blieb ich durch das Gewicht der Bälle bewegungsunfähig.
Meine Neugierde an Brüsten blieb bestehen, und als sicherere Lösung nähte mir meine Mutter einen kleinen Kittel mit zwei großen Taschen in Brusthöhe. Sie benutzte eine robuste blaue Baumwolle und verzierte die Taschen und Ärmel mit einem rot-weißen Nadelstreifenmuster. Die Rückseite des Kittels ist mit leuchtend roten Knöpfen versehen.
Sobald ich in den einzigartigen Kittel schlüpfte, dessen runder Ausschnitt perfekt um meinen kleinen Hals passte, lief ich durch das Haus, sammelte einzelne Socken oder Unterhosen und steckte sie in die Taschen, bis ich genug Material gefunden hatte, um oben zwei ungleiche Formen zu bilden. Ich weiß nicht mehr genau, wie oft ich den Kittel getragen habe, aber ich erinnere mich an die Bewegung, die mit dem Tragen des Kittels verbunden war; an das Wandern, Suchen und Sammeln. Es ruft ein Gefühl von Bestimmung, Zufriedenheit und vor allem Geborgenheit wach. Kein anderes Kleidungsstück gab mir jemals das Gefühl, so geliebt oder so geschützt zu sein.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / KIttel

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Octopus-Kartentäschchen
Octopus-Kartentäschchen
Als ich nach Hongkong zog, verlor ich meine Octopus-Karte – eine aufladbare Karte für das öffentliche Verkehrssystem – einige Male, bevor eine eng befreundete Person mir dieses Kartentäschchen anfertigte, das ich bequem an meiner Tasche befestigen konnte. Als ich in Hongkong lebte, erhielt ich nicht nur unerwartete und aufmerksame Geschenke von Unbekannten, die zu Freund*innen wurden, sondern ich lernte auch, besser zuzuhören und gemeinsam mit anderen Geschichten zu erzählen, indem wir Worte und kleine, liebevolle Gesten austauschten. Heute lebe ich weit weg von Hongkong, einem Ort, der Teil des Puzzles geworden ist, das ich mein Zuhause nenne.
Meine Freund*innen lassen jetzt ihre Octopus-Karten als einen Akt des Widerstands zu Hause. Sie gehen auf die Straße, um für ihre Freiheit, ihre Liebe und ihr Zuhause zu kämpfen. Da ich weit weg bin, bemühe ich mich um die richtigen Worte und Taten zur Unterstützung. Mit meinen Worten und denen meiner Freund*innen hoffe ich, unsere Geschichten weitergeben zu können. Es liegt nicht nur an mir, diese Geschichten zu erzählen, wir spinnen sie gemeinsam.
Das Kartentäschchen erinnert mich daran, dass wir alle unerbittlich diese Welt zusammenknüpfen und häkeln, dass Distanz und Nähe nicht immer in linearen Zeitspannen und physischer Präsenz gemessen werden und dass Freundschaften und Schönheit durch kleine Gesten wachsen. Es gibt mir Kraft, und diese Kraft gebe ich an andere weiter. Ich gebe das Geschenk weiter, das mir mein Freund einst gemacht hat.
Kittel
Diesen Kittel, an dem die Zeit unbemerkt vorübergegangen ist, hat meine Großmutter vor 45 Jahren für meine Mutter genäht. Sie nähte damals zwei Kittel aus demselben Stoff. Einen großen für meine Mutter und einen kleinen für mich. Ich war damals fünf Jahre alt. Leider ging meiner über die Jahre verloren. Die Duplizität der beiden Kittel, jeder in der entsprechenden Größe, stellt in vollendeter Weise meine Mutter und mich dar, als wären sie unser Alter Ego.
Meine Großmutter hatte bei einer Damenschneiderin in einem kleinen baskischen Dorf nähen gelernt. Sie konnte alle denkbaren Kleidungsstücke herstellen. Niemals hätte sie ein bereits gefertigtes Kleidungsstück gekauft. Sie war sehr groß und es gab für ihre Konfektionsgröße kaum Auswahl. Es war einfacher, alles nach ihrem Geschmack selber zu machen.
Ich habe noch ihren Nähkasten. In ihren Händen war es eine faszinierende Schatztruhe voller Farben und verschiedener kleiner, präziser Werkzeuge. Auch ihre mechanische Nähmaschine mit ihrem großen Pedal bringt mir noch immer freundliche Erinnerungen an eine Zeit voller Spiele und Freiheit.
Der Kittel in großer Größe hat seit den siebziger Jahren alle Umzüge und jeden noch so ausgiebigen Frühjahrsputz überlebt. Heute ruht er meist in meinem Schrank, aber er hat sein ganzes Potential bewahrt, Erinnerungen hervorzurufen. Im Laufe der Zeit habe ich ihn immer wieder eine Weile getragen und jedes Mal hat er mich in meiner Identität bestärkt.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Kittel

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Bluse
Bluse
Im Alter von 20 Jahren habe ich die Bluse von meiner Großmutter geschenkt bekommen. Angefertigt wurde sie von meiner Mutter im Rahmen ihrer Schneiderlehre. Auf dem Etikett im Kragen steht ein Name, der mir fremd erscheint. Ihren Vornamen ließ meine Mutter anstatt mit einem „K“ mit einem „C“ sticken und benutzte ihren damaligen Familiennamen. Im gleichen Alter wie damals meine Mutter, habe ich die Bluse mit Stolz getragen. Ihr haftete etwas von dem Gefühl an, sein eigenes Leben selbstständig auszurichten.
Meine Großmutter trug die Bluse, das Geschenk ihrer Tochter, eingesteckt, mit einem langen Rock und mit hohen Schuhen. In der Brusttasche befand sich ein Tuch mit Hahnentrittmuster. Da ich sie als Jacke trage, habe ich die vier, von meiner Oma am unteren Saum angebrachten Knöpfe – zwei vorne, zwei hinten – entfernt. Meine Oma hat mir ihre Funktion erklärt: Ein Paar Knöpfe wurden mit einem zwischen den Beinen hindurch verlaufenden Gummiband verbunden, sodass die eingesteckte Bluse im bewegungsreichen Alltag in Form blieb.
Blicke ich heute auf die Jacke und besonders auf das Etikett, muss ich daran denken, wie viel Vergangenheit und Zukunftsträume in ihr stecken. Nach ihrer Schneiderlehre hat meine Mutter ein Modedesignstudium absolviert, in diesem Beruf aber nie gearbeitet. Für mich legt das Kleidungsstück eine frühere Identität und Lebenszeit meiner Mutter offen, in der sie andere, ganz eigene und spezifische Träume hatte. Ihr Leben ist dann aber einfach anders verlaufen.
Strickjacke
Diese Strickjacke hat meine Mutter für mich gestrickt. Ich habe sie vor circa fünf Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen. Meine Mutter hat zeitlebens unglaublich viel gestrickt; für meinen Vater, für meinen Bruder, für Märkte, auf denen sie ihre Stricksachen zum Kauf anbot. Nicht immer gefiel mir, was sie für mich strickte. Mal waren die Farben nicht so meins, mal kratzte die verwendete Wolle. Doch diese Strickjacke gefiel mir sofort: Sie saß perfekt, das Zopfmuster fand ich raffiniert und handwerklich toll ausgeführt und sie hatte extra einen Metallreißverschluss statt einen aus Plastik eingearbeitet.
Ich trage die Jacke leger zu Hause und auch wenn ich zum Beispiel in ein schickes Restaurant gehe. Und mir ist sehr egal, dass sie mittlerweile etwas aus der Form geraten und alt aussieht.
Meine Mutter ist am 7. Dezember 2019 nach einer Krankheit überraschend gestorben. Wir, sie und ich, hatten zuvor fast ein Jahr kaum Kontakt. Ich verstand ihre Art zu leben nicht und sie verstand mich in meiner nun gut ein Jahr zurückliegenden persönlichen Krise nicht. Wir vertrauten uns nicht mehr. Voller Groll hatte ich es vermieden, jegliches Gestricktes von ihr anzufassen, geschweige denn zu tragen. Zum Glück hatten wir zwei Wochen vor ihrem Tod wieder angefangen miteinander zu sprechen. Seit ihrem Tod trage ich nun wieder diese Strickjacke – so ist meine Mama ein Stück weit bei mir.

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Strickjacke

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Aran-Pullover
Aran-Pullover
Dies ist mein Aran-Pullover, den meine Mutter und ihre Mutter Anfang der 1980er Jahre zusammen gestrickt haben. Meine Mutter strickte das Vorder- und Rückenteil und meine Großmutter die Ärmel. Beide behaupteten immer, dass sie mit der Wolle gleich große Maschen strickten und sich so die Aufgaben teilen konnten. Ich erinnere mich daran, dass sie, als ich aufwuchs, immer ein Projekt im Auge hatten, sei es Stricken oder Nähen. In meiner Kindheit haben sie sehr viele Pullover gestrickt, heute sind fast alle verschlissen oder verloren; dies ist der letzte – er war in der hintersten Ecke eines Schranks versteckt.
Als ich klein war, wollte ich, dass sie mir das Stricken beibringen. Ich nahm mir vor, einen langen Schal wie den von Tom Baker in Dr. Who zu machen; am Ende gab ich auf und hatte nur ein Stück mit sechs Reihen und in der Länge von drei Zoll geschafft, das später zu einer „Krawatte“ für meinen Teddybären wurde.
Meine Großmutter ist mittlerweile gestorben, und meine Mutter hat aufgehört zu stricken. Ich denke, dass wir sie entmutigt haben, als unser Studium begann und wir anfingen, bevorzugt Kleidung in Geschäften zu kaufen. Heute sagt sie, dass es keinen Sinn mehr hat, zu stricken, da allein der Kauf der Wolle mehr kostet als der fertige Artikel aus dem Laden. Glücklicherweise hat sie auf Reisen traditionelle Quilttechniken anderer Länder kennengelernt. Nun kreiert sie Steppdecken für die neue Familiengeneration, die diese sehr zu schätzen weiß.
Thailändische Schuluniform
Dies ist das Hemd der Schuluniform, die ich 1994–1995 als Austauschschüler an der Sri Boonyanon-School in Nonthaburi, Thailand, getragen habe. Meine dortigen Gasteltern haben es mir gekauft. Auf die Brust sind die Zahlen 026 gestickt, da ich an der Schule der 26. Schüler aus dem Ausland war. Das Geld, das meine Eltern an die Austauschorganisation bezahlt haben, wurde von dieser genutzt, um bedürftigen Schülern ein Austauschjahr zu ermöglichen. Mein Aufenthalt dort ging also auf Kosten meiner Gastfamilie und war also ein großes Geschenk.
Natürlich habe ich viele Erinnerungen an dieses intensive Jahr! Da es in Thailand recht warm ist und ich trotzdem in den Pausen und nach der Schule oft Sport trieb, waren meine Hemden täglich verdreckt und verschwitzt. Ich musste daher die Vorwäsche, besonders der Krägen, selbst übernehmen, während das Waschen meiner Gastmutter oblag. In die hohe Kunst des Bügelns führte mein Gastvater mich erst ein. Dies Hemd erinnert mich besonders daran, wie ich den Kragen selbst waschen musste und wie mir mein Gastvater daran das Bügeln beigebracht hat. Einmal erlernt, versuchte ich mich auch an den Uniformen meiner Gastgeschwister und den Hemden und Blusen meiner Gasteltern. Ich habe dies Hemd all die Jahre aufbewahrt, als Andenken an eine sehr schöne, spannende und lehrreiche Zeit! An dieser Stelle bleibt mir nur, meinen Gasteltern und meinen Eltern zu danken!

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Schuluniform
Thailändische Schuluniform
Kurzlesung von Kuratorin Stephanie Rosenthal
Erinnerungen an ein Jahr als Austauschschüler in Thailand 1994/95, konserviert in einer Schuluniform: Im Rahmen der digitalen Aktivierungen von Lee Mingweis Einzelausstellung 禮 Li, Geschenke und Rituale liest Kuratorin Stephanie Rosenthal die Geschichte zur thailändischen Schuluniform vor, die für Fabric of Memory eingereicht wurde.
Blauer Overall
Der Overall ist das einzige Kleidungsstück aus meiner Kindheit, welches ich noch besitze. Dieser blaue Overall hat mich über Jahre begleitet, in denen ich von Stadt zu Stadt, sogar von Land zu Land umgezogen bin. Auf einmal hat mich interessiert, wie dieser Overall es geschafft hat, so lange in meinem Leben zu bleiben. In unserem Familienalbum gibt es viele Fotos, auf denen ich diesen Overall trage. Auf diesen Fotos war ich ein oder zwei Jahre alt. Wenn ich mir die Fotos jetzt nach 41 Jahren ansehe, spüre ich noch immer diese Geborgenheit. Später habe ich herausgefunden, dass er ein Geschenk meines Onkels zu meinem ersten Geburtstag war. Es war ein ganz besonderes Geschenk aus Übersee, was damals noch recht ungewöhnlich war.
Mein Onkel verlor sein Augenlicht aufgrund einer Fehldiagnose, als er gerade sechs Jahre alt war. Aufgrund der mangelnden Möglichkeiten verließ er im Alter von 20 Jahren den Iran und ging zur Weiterbildung nach Deutschland.
Ich glaube, dass der Overall aus meiner Kindheit auch viel über die Beziehung zwischen meiner Mutter und ihrem älteren Bruder aussagt. Er war das einzige Familienmitglied, das den Iran in den 1960er Jahren verließ. Obwohl wir damals im Süden des Landes lebten, wo die Temperatur immer zwischen 28 und 45 Grad Celsius liegt, machte sie Fotos von mir in dem Overall. Vor einigen Jahren hat sie ihn meiner Frau geschenkt. Der blaue Overall leistet uns noch immer Gesellschaft!

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Blauer Overall

Lee Mingwei, Fabric of Memory, 2020 / Pullover
Selbstgehäkelter Pullover
Dieser Pullover hat in seinem jetzigen Zustand eine vielseitige Geschichte: Meine Mutter strickte einen Pullover aus burgunderfarbenem Garn für meinen Vater, kurz nach ihrer Hochzeit im Jahr 1961 in New Jersey, noch bevor ich geboren wurde. Er wurde mir als Teenager in den 80er Jahren vererbt und war jahrelang eines meiner Lieblingsstücke, welches mich auf meinen Reisen überall hin begleitete. Ich gab ihn an eine enge Freundin weiter, die sich in das Kleidungsstück verliebt hatte und schließlich nach Kalifornien zog.
Dort fand ich ihn Jahre später wieder, als ich sie in den 2000er Jahren besuchte. Da meine Freundin den Pullover nicht mehr trug, gab sie ihn mir zurück, leider in einem etwas mottenzerfressenen Zustand. Ich nahm ihn dann mit nach Berlin, meinem heutigen Lebensmittelpunkt. Dort trennte ich den Pullover auf und stellte aus neu gekauftem, schwarzen Garn und dem burgunderfarbenen Garn diesen spinnennetzartig gemusterten Pullover her, der von der Mitte bis zu den Rändern kreisförmig gehäkelt ist.