Über das Weben
Von der Erfindung des Webstuhls bis zum World Wide Web: Das Weben ist in unserem Leben allgegenwärtig. Diese Kurztexte zur Ausstellung Hella Jongerius: Kosmos Weben geben einen kleinen Einblick in die gesellschaftliche Dimension eines jahrhundertealten Handwerks.

Studio Jongerius, 2020
© Hella Jongerius, VG Bildkunst Bonn, 2020, Foto: Laurian Ghinitoiu
Weben und Spinnen im kollektiven Bewusstsein
Das grundlegende technische Prinzip des Webens – die Fäden von Kette und Schuss, die sich überkreuzen und so ein Netzwerk bilden – verweisen auf die sich überlagernden Zusammenhänge, die sich im Denken über das Weben ergeben. Viele Redewendungen verweisen auf die Bedeutung textiler Produktionsmethoden in menschlichen Gesellschaften und erzählen von der Bedeutung von Weben, Spinnen und Textil im kollektiven Bewusstsein: Menschen spinnen Geschichten, sie nehmen den Faden in einem Gespräch wieder auf, sie surfen im World Wide Web. Das Leben kann an einem seidenen Faden hängen und ein Wunsch mit jeder Faser des Seins herbeigesehnt werden. Der Dimension des Textils Bedeutung zu vermitteln wird schon in dem lateinischen Wort textus (lateinisch Gefüge, Geflecht, Zusammenhang der Rede) deutlich, welches auf die verwobene etymologische Beziehung von geschriebenen Texten und gewobenem Textil verweist.
Weben, Flechten, Spinnen
In der Ausstellung werden Fäden und Garne durch unterschiedliche Techniken verbunden. Im Weben werden Längsfäden (sogenannte Kettfäden) und Querfäden (sogenannte Schussfäden) zu einem Gewebe, wozu es einen Webstuhl benötigt. Der Schussfaden wird beim Handwebstuhl mit einem sogenannten Weberschiffchen durch die Längsfäden geführt. Beim Flechten werden die Fäden diagonal miteinander gekreuzt, dies wird auch zur Herstellung von Körben verwendet. Anders als beim Weben bedarf es für simple Methoden, wie das Flechten von Zöpfen, keiner Maschine. Beim Spinnen wird durch Verdrehen und Verziehen ein Garn hergestellt, zumeist mit dem Hilfsmittel der Spindel oder des Spinnrads.
Jacquard’s Webstuhl
Das innovative Potenzial des Webens ist auch in der Geschichte um die Entwicklung des ersten modernen Webstuhls erkennbar, der als erster Computer bezeichnet wird. Die Entwicklung der Digitalität ist mit der des Webens und des Webstuhls verknüpft. Anfang des 19. Jahrhunderts erfand Joseph-Marie Jacquard mittels Lochkartensteuerung einen Webstuhl, der Muster beliebig oft hintereinander herstellen konnte. Die Erfindung war ein Durchbruch für industrielle Massenanfertigung. Durch die „programmierten“ Löcher in den Karten griffen Drahthaken darunterliegende Webfäden. Immer dort, wo ein Loch, eine Eins, in der Karte ist, erscheint ein Faden, ein Pixel. Ein geschlossenes Loch lässt die Nadel nicht durchgleiten und es findet keine Veränderung in dem Muster statt. Das binäre System von offenen und geschlossenen Stellen ergab also einen Code, der das Heben und Senken steuerte. Heutzutage kann der Pixel mit dem Schnittpunkt der zwei Fäden von Kette und Schuss, horizontalen und vertikalen Linien, verglichen werden. Das taktile und sinnliche Material basierte also auf einem abstrakten und technischen Raster. Die Weberei war somit eine der ersten handwerklichen Techniken, welche das grundlegende Bild (der Code) und das Produkt (der Bildkörper) voneinander trennt. Ada Lovelace, die als erste Computerprogrammiererin angesehen wird, und ihr Ehemann, der Mathematiker Charles Babbage, wurden von Jacquards Webstuhl zu der ersten, ebenfalls lochkartengesteuerten Rechenmaschine inspiriert. Sie entwickelten die „Analytical Engine“, eine Maschine aus Tausenden von Zahnrädern. So wie die Webmaschinen von Jacquard mit Hilfe einer Kette von Lochkarten automatisch Stoffmuster erzeugen konnte, so „webte“ ihre Rechenmaschine algebraische Muster.
Entstehungsgeschichten des kosmischen Webstuhls
Jongerius’ Installation Cosmic Loom bezieht sich auf die vielen Entstehungsgeschichten, in der das Weben und die Entstehung des Lebens zusammen gebracht werden. So erzählt zum Beispiel die ägyptische Entstehungsgeschichte, dass Neith, Göttin des Krieges und der Jagd, die Welt auf ihrem kosmischen Webstuhl gewebt hat. Nach der Geburt ihres Sohnes und ersten Gottes Ra, zog sie den Himmel über ihren Webstuhl auf und webte das Universum. Sie tauchte das Netz in das Urwasser und sammelte so alle lebenden Kreaturen auf und setzte sie auf die Erde. Ananke, griechische Göttin des Schicksals, spinnt in Platos Vision das Universum. Sonne, Mond und Planeten waren in diesem Tun ihre Spinnwirtel. Während sie webte, sangen Sirenen durch die Netze des Schicksals und Seelen bewegten sich endlos durch die Fäden auf ihrem Weg zwischen Tod und Wiedergeburt. Die Mythologie der Batak in Nord Sumatra, Indonesien nennt die Göttin Si Boru Deak Parujar, die Erschafferin der Menschen und der Welt und erste Spinnerin, die zum Spinnen zu ihrem Zuhause, dem Mond, zurückkehrte und seitdem die Mondphasen bestimmt. Die Geschichte der Moiren berichtet von drei Schwestern, die jüngste Klotho spinnt den Lebensfaden, der von ihren Schwestern Lacheses zugeteilt und abgemessen und von Atropos abgeschnitten wird. Die nordische Erzählung zeichnet ein ähnliches Bild der Normir, der Schicksale. Drei Geister, die den Faden des Lebens für alle Lebewesen und Götter spinnen. Urd ist die älteste der Schwestern und wird mit Vergangenheit assoziiert oder auch mit dem Schicksal, Verdande wird mit der Gegenwart und den Handlungen, die gerade stattfinden, in Verbindung gebracht und Skuld mit der Zukunft und all jenen Handlungen, die den Lebensweg vorantreiben. Die Spinnengroßmutter Kokyangwuti ist nach der Hopi-Kosmologie die Erdgöttin, welche die Menschheit geboren hat. In den Mythen der südwestlichen Indigenen Amerikas gibt es die mächtige Lehrerin und Tricksterin Spider-Women, sie wird auch als „die Schöpferin des Lebens“ bezeichnet, die das Schicksal eines jeden Menschen spinnt. Sie ist eine einfallsreiche Helferin in schweren Lebenslagen, die ein Energienetz um die Hilfesuchenden spinnt. In der metaphysischen Leseweise dieser Traditionen wird das Leben und die Gesellschaft als ein Netzwerk gedeutet, in dem jeder Mensch ein Strang ist. Spider-Women kennt all die Netzwerke und kann diese lehren, daher auch die bekannten Traumfänger in der Form von Netzen, in die über Nacht ihr Wissen für die Schlafenden aufgefangen werden soll.