Das Kosmische im Kosmischen Webstuhl
Von Michaela Vieser
„Um die Zusammenhänge festzulegen, die das Leben der Stadt regeln, spannen die Einwohner von Ersilia Schnüre von Hauskante zu Hauskante, weiße oder schwarze oder weiß-schwarze, je nachdem, ob sie Beziehungen von Verwandtschaft, Warenverkehr, Autorität oder Vertretung bezeichnen. Sind es dann so viele Schnüre, daß man nicht mehr durchkommt, gehen die Einwohner fort: Die Häuser werden abgebaut; es bleiben nur die Schnüre und die Halterungen der Schnüre.“ (1)
In Italo Calvinos rätselhaften Werk Die unsichtbaren Städte (1977) verlassen die Bürger*innen von Ersilia scheinbar mühelos ihre Stadt, wenn die Netze, die sie gewoben haben, das Leben darin zu behindern beginnen. Ihr Land ist groß genug und so verlegen sie ihr Habitat an einen neuen Ort, bauen ihn dort wieder auf und verflechten ihn mit neuen Fäden und Mustern. Doch jedes Mal, wenn sie ihren neuen Lebensraum „komplizierter und zugleich noch regelmäßiger“ (2) als den alten erschaffen wollen, scheitern sie. Sie geben auf und beginnen von neuem, versuchen es wieder – und scheitern erneut. Alles zerfällt, nur mehr Ruinen und Geröll, keine Häuser, keine Strukturen überdauern, nur „Spinnweben verworrener Beziehungen, die nach einer Form suchen.“ (3) In Berlin dröselt man Fäden aus vergangenen Epochen auf und verwertet diese wieder. Ein Spaziergang durch die Stadt erinnert ständig an die noch sichtbaren Verstrickungen der Menschen, die vor uns hier gelebt haben. Wir haben neue Kompositionen ausprobiert, haben Konzepte und Ideologien aufgegeben, Kriege angezettelt und wieder von Null begonnen, aber die zugrundeliegenden Muster des kosmischen Webstuhls bleiben. Es gab Zeiten, da fädelten wir Knochen und Felle in unsere Stoffe, Perlen aus fernen Ländern, Seide und pflanzliche Fasern gefärbt mit Blut. In letzter Zeit binden wir digitale Technologien in die Textur, verweben diese systematisch mit engen, sauberen Knoten und blinkenden Lichtern, dort, wo ein Faden den anderen kreuzt. Dieser Meta-Stoff sieht raffiniert aus, komplex, fühlt sich aber leider etwas spröde an. Dem Farbverlauf fehlt es an Leben und Glanz trotz seiner vielen LEDs: wo wir uns doch nur nach einer weichen Decke sehnen, die uns einhüllt, schützt und tröstet.
Die sieben Räume in der Ausstellung von Hella Jongerius manifestieren den Drang neu darüber nachzudenken wie wir weben, was wir weben sollen und was wir weben können. Es geht auch um die Begrifflichkeit von Stoff: Was ist ein Stoff und was kann er leisten?
Weben verbindet Handwerk und Technologie, und während in allen Kulturen und Gesellschaften ein mystisches Element, eine bestimmte Absicht, in die Textur des Stoffes und des Lebens selbst mit verwoben wurde, scheint dieses Element heute zu fehlen. Die Webstühle, die das „Material“, das uns umgibt, herstellen – die Kleidung, die unsere Haut bedeckt, die Textilien, die unsere Wohnungen ausstatten – stehen in lärmenden Fabriken, werden bedient von unterbezahlten Arbeiterinnen, für die der Prozess des Webens zu einer Last geworden ist und schon lange nicht mehr eine Arbeit, zu der sie sich berufen fühlen.
2020 bat Hella Jongerius mich, ihr dabei zu helfen, den Aspekt des Kosmischen in den Webstuhl zu übertragen. Sie sah ihre Rolle im Lauschen und Form geben, um dann einen Gegenstand (das deutsche Wort drückt fast bildhaft die Idee aus, dass ein „Gegen-Stand“ uns mit etwas anderem konfrontiert), ein Objekt, oder eine Materie zu schaffen, die oder das eine neue Art des Denkens über die Fabrikate und Fabrikationen der Welt ermöglicht. Jongerius Arbeit entstammt immer zuerst aus ihren Händen, aus dem Berühren, dem Spielen, dem Experimentieren. Wo andere glauben, Material und Technik ausgereizt zu haben, drängt sie weiter, spürt hinein und geht darüber hinaus, manchmal ins progressiv Futuristische. Es ist als reagierten ihre Hände auf einen ihr innewohnenden Geist und werden selbst zu Lehrerinnen, die schließlich die Technik sensibilisieren. Effizient, radikal und doch poetisch und sinnlich. Gemeinsam betrachteten wir die Archetypen des Webens und ließen uns von den Märchen inspirieren. Hier tauchen die Schwesterhandwerke Spinnen und Weben immer wieder als Medium auf, wenn etwas in die Welt gebracht werden soll, wo vorher nichts war. Der Akt des Webens kann Begierde schüren (die Müllerstochter im Rumpelstilzchen erschafft aus dem gewöhnlichsten aller Gewächse – dem Flachs – den wertvollsten Stoff – das Gold), kann bei unsachgemäßer Handhabung gefährlich sein (Dornröschen hantiert mit der Spindel und ein ganzes Volk schläft ein) oder bringt Heilung (in den Sechs Schwänen webt die Schwester Mäntel aus im Mondlicht gesammelten Nesseln und befreit damit ihre geliebten Brüder von einem Fluch). In solchen Wandteppichen an Geschichten können manchmal Weise Frauen auftauchen, um neue Narrative anzustoßen. Und so wurde es meine Aufgabe, sie zu finden: Schamaninnen, Energiearbeiterinnen, Weltenwanderinnen, ja, sogar Hexen. Frauen, die „die Technologie der Ekstase lernten“, (4) wie Mircea Eliade es ausdrückt. Ich verband mich mit dem Fluss, der durch uns alle fließt, meditierte, übte, versank tief, vertraute. Das Finden war das eine, das Einladen das andere: Man muss mit klaren Worten sprechen. Jede Absicht spiegelt sich in den Äußerungen wider. Zweifel an ihren Fähigkeiten wird von ihnen erspürt. Sie nehmen den Ruf nicht an.

Hella Jongerius, Skuld aus der Serie Space Amulets, 2021 © Gropius Bau / Hella Jongerius, VG Bild-Kunst 2021, Foto: Magdalena Lepka

Hella Jongerius, Verdandi (Detail) aus der Serie Space Amulets, 2021 © Gropius Bau / Hella Jongerius, VG Bild-Kunst 2021, Foto: Magdalena Lepka
Als Mediatorin des Abends unterstützte ich Jongerius dabei ihre Fragen zu stellen und so ihre Intention mit dem kosmischen Webstuhl zu verbinden: Welche Materialien dienen ihrer Interpretation des kosmischen Webstuhls? Welche Geschichten sollen die Heilkraft der Space Amulets (2021) in der Ausstellung beeinflussen? Von wem können wir Weisheit schöpfen? Die vier Frauen bauten aus Teppichen und Tüchern einen Altar in der Mitte des Lichthofes und brachten Gegenstände. Sie wählten Dinge aus, die sie für Jongerius Welt für wichtig erachteten. Ein Horn vom Wisent, der Stachel eines Stachelschweins, Kristalle – harmonisch gewachsene molekulare Strukturen, Wasser in Messingbechern, frische Rosen für die Freude, Kerzen, Zimbeln, Blätter, eine Spindel. Jongerius würde später schreiben: „Da Gegenstände meine Sprache sind, war das für mich eine Quelle der Kraft. Der Geruch von weißem Salbei, der Klang von Trommeln und Glocken, der Blick auf die Ganzheit, die Darstellung unserer Welt, repräsentiert in all diesen Elementen, so im Kreis angeordnet, ohne Hierarchien. Ich dachte an meine Keramikvasen mit den wütenden Tieren, die ich für die Ausstellung getöpfert hatte: Sie haben ihr gutes Recht, wütend zu sein.“
Ein*e Schaman*in fühlt hinein in die liminalen Räume unseres Kosmos und empfängt Informationen von Entitäten, die jenseits dessen liegen, was wir mit dem Intellekt erfassen können. Solche Daten sprechen direkt zu unseren Sinnen; sie kommen als Gesang oder als Tanz, in Worten, die von einem tiefen, inneren Ort stammen und manchmal auch von Geistern. Die Analyse der Daten bleibt uns überlassen, manches bleibt kryptisch, anderes ist von vornherein banal. Was die Botschaften in uns auslösen ist persönlich.
Der sibirische Schamane und Autor Galsan Tschinag schreibt über das Eintreten in den Zustand der Ekstase: „Nun bin ich dabei, die Geister herbeizurufen, obwohl die Worte, die fischhaft stumm aus den Fluten schlüpfen, mühelos zu Versen zusammenlaufen und die Stimme, die sie auffängt, sich längst ein- und festgesungen hat. Noch bin ich ein Nachbar der Wolken und ein Bruder der Fische nur, aber ich spüre, ich stehe im Wandel, bin unterwegs zum Wasser und zur Luft, gewillt, mich zur Kehle der Fische und zum Herzen der Wolken zu steigern. Gelingt dies, wird es mir auch gelingen, zu einer Gegenkraft und einem Gegengewicht des Himmels und der Erde zu wachsen.“ (5)
Die Schamaninnen an diesem Abend hatten noch nie miteinander gearbeitet und doch teilten sie sich den Raum in einer fließenden Choreografie, die diesem Moment entsprang. Sie spielten ihre Trommeln und erhoben ihre Stimmen. Gemeinsam betraten sie den Ort, mit dem sie sich verbinden und von dem sie empfangen, jede auf die von ihr praktizierenden Art und Weise. Sie beschworen die vier Himmelsrichtungen und öffneten Portale. Wir begrüßten sogar eine Besucherin von einem weit entfernten Ort, Alwine, die längst verstorbene Großmutter einer der Weisen Frauen. „Ich bin von weit her gekommen“, sagte sie in Reimen, die sie auf Althochdeutsch wiedergab. Dann beklagte sie sich: „So viele Feuer auf meinem Weg. Die Schmiede hören nie auf, neue Dinge zu schaffen.“
Sie sprachen die Einladung aus an uns alle: die Spindel selbst in die Hand zu nehmen und sie zu drehen, mit ihr zu tanzen, damit der Faden mit guten Absichten und Energie gesponnen werde.
Ihre Botschaft erinnerte mich daran, dass mittlerweile 70 Prozent der Energie, die wir verbrauchen, in die Herstellung von Dingen fließt. Kleidung, Elektronik, Plastik. Letztes Jahr lasteten die vom Menschen fabrizierten Dinge auf der Oberfläche unseres Planeten zum ersten Mal schwerer als alles Natürliche. Sprach Alwine davon? Sie wandte sich an Jongerius: „Alles ist bereits da. Was du jetzt wahrnimmst, hat schon vor langer Zeit begonnen. Wenn etwas gebraucht wird, wird es dich um deine Aufmerksamkeit bitten, und deine Antennen werden es hören.“ Jongerius sagte später, es war gut, diese Worte zu hören, eine Bestätigung, dass sie sich weiterhin auf ihre Intuition verlassen solle, ihr versiertestes Werkzeug, ihre gebündelte Lebenserfahrung als Künstlerin, manifestiert in ihrem Wesen, in sich selbst. Sie hatte geplant einen Teil der Ausstellung der Herstellung von Holz aus recyceltem Papier zu widmen – aus alten Prospekten von früheren Ausstellungen des Gropius Bau. Dann die Herstellung von Glas aus recyceltem Sand, Material, das von der Lee Mingwei Ausstellung 2020 übrig geblieben war, zu wertvoll um es wegzuwerfen. Neues aus Altem herstellen. Unsere Ressourcen neu denken. Alwine musste an dieser Stelle mit Wodka und Milch gefüllten Bechern bewirtet werden, bekam mit Zucker überzogene Küchlein angeboten. Sie blieb noch eine Weile und beantwortete weitere Fragen, gab aber auch Antworten auf Ungefragtes. Was die Space Amulets (2021) in der Ausstellung betraf, die Jongerius geplant hatte, wo sie angebracht und was sie schützen sollten, dazu gab sie klare Instruktionen: „Die Ecken sind wichtig. Nehmt Holz.“ Jongerius notierte: „… und ich hörte Holz als Material. Ich dachte sofort an den großen Baumstamm, der mit der großen Maserung, den ich vor zwei Wochen gesehen habe, der muss in diesen Raum.“ Zur gleichen Zeit vertieften sich die anderen Weisen Frauen in den Begriff der Heilung. Sie alle hatten einen Fluss gesehen, den Fluss des Lebens. Die Vitalität muss in dieser Zeit wiederhergestellt werden, die Farben des kosmischen Webstuhls, der im Laufe der Ausstellung immer weiter gewebt werden solle, müsse lebendiges Wasser widerspiegeln, Quecksilber, dunkel am Morgen und mit silbernen Fäden, wenn die Sonnenstrahlen auf seiner Oberfläche spielen. Auch wurde eine Farbe genannt, die an die Leere im Universum und an die in unseren Herzen erinnert, nicht dunkel im negativen Sinne, sondern ein schöpferisches Dunkel, aus dem das Neue erwachsen kann. Dann das gelbe Licht der aufgehenden Sonne. Eine Frau präzisierte: „Webe Dinge hinein, die lebendig sind, jung. Sprossen. Den Glanz von jungen Kinderhaaren. Verschlungene Reben. Heilung kommt vom Leben selbst.“ Schließlich sprang Alwine, schneller und immer schneller, und plötzlich war sie weg, zurück an dem Ort, von dem sie gekommen war. Die Schamanin, die sie in ihrem Körper beherbergt hatte, war erschöpft.
In einem waren sich alle Schamaninnen einig, dass es sich während der Ausstellung um eine Heilung handeln würde und dass Jongerius diese Aufgabe nicht allein tragen musste: „Es gibt viele, die jetzt daran arbeiten. Alles, was du tun musst, ist, dich auf deine Absicht zu konzentrieren. Und wenn der Faden, den du spinnst, reißen sollte, denke darüber nach, welche Gedanken dir in diesem Moment durch den Kopf gingen. Erkenne, was unterbrochen wurde, nimm es wieder auf und spinne weiter.“
Sie sprachen die Einladung aus an uns alle: die Spindel selbst in die Hand zu nehmen und sie zu drehen, mit ihr zu tanzen, damit der Faden mit guten Absichten und Energie gesponnen werde. Das Leben weiter weben und die Verbindungen spüren, die in unserem Wandteppich verknüpft sind.
Endnoten
1. Aus dem Englischen übersetzt nach Italo Calvino, Invisible Cities, London (Vintage Books) 1997 [zuerst: 1972], S. 68.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Mircea Eliade, Shamanism: Archaic Techniques of Ecstasy, Princeton, USA (Princeton University Press) 2004, Titel.
5. Galsan Tschinag, Die graue Erde (suhrkamp taschenbuch), 1999, S. 16.