Clémentine Deliss: Kader Attia. The Phantom Limb in Art
Neben seiner kuratorischen Beteiligung an YOYI! Care, Repair, Heal zeigt Kader Attia zwei aktuelle Installationen in der Ausstellung. In ihrem Essay untersucht die Kuratorin und Kulturhistorikerin Clémentine Deliss Attias Praxis und Theorie der Reparatur, die einen Umgang mit den Narben kolonialer und kollektiver Traumata sucht. (1)
„Ceux qui sont morts ne sont jamais partis:
Ils sont dans l’ombre qui s’éclaire…“
— Birago Diop, Les Souffles (1943)
Kader Attia hat seit seiner bahnbrechenden Arbeit über die Gueules cassées (zerschlagene Gesichter), einer Zweikanalprojektion, die Archivfotos von verstümmelten Gesichtern von Soldat*innen aus dem Ersten Weltkrieg Bildern von zerbrochenen und reparierten ethnografischen Objekten gegenüberstellte, ein einzigartiges Forschungskontinuum zwischen politischen, ästhetischen und architektonischen Ausdrucksformen der Reparatur entwickelt. (2) Für Attia geht dieses Wort mit seinen mechanischen, sogar häuslichen Konnotationen des Nähens und Reparierens über sichtbare Strategien der Reparation und den Diskurs der Restitution hinaus. Er kehrt den Begriff um und artikuliert damit das Chaos, das sich hinter der internalisierten Darstellung dessen verbirgt, was pathologisch verletzt oder gewaltsam entfernt wurde. Unabhängig davon, ob sich die Wunde im Gesicht einer Person befindet oder in das soziopolitische Gewebe eines Kontinents oder eines Glaubens eingebettet ist, erzeugt der Prozess der Reparatur Ambivalenz. Auch wenn es gelingt, die Spuren einer beschädigten Vergangenheit zu beseitigen, wird das Trauma durch künstliche Mittel wiederhergestellt, indem vielfältige somatische Überreste und prothetische Monumente für das, was nicht mehr da ist, geschaffen werden. (3) In Attias künstlerischem Vokabular bezeichnet Reparatur – im Gegensatz zu einer rationalistischen Affirmation des Fortschritts – die endlose Wirkung eines chthonischen, unterirdischen Regenerationsprozesses.
Wie ein Aktivist der Gedanken schlägt er subtile und unerwartete Wege ein, die die exklusiven Zugänge der abendländischen Bibliophilie durchbrechen. Seine Installationen sind bekannt für ihre weitläufigen Strukturen, die mit Bänden von Büchern und Publikationen des 20. Jahrhunderts beladen sind. Mit diesen Überbleibseln des modernistischen Kapitals stellt er neue, unvorhersehbare Dialoge her. Es gelingt ihm, die fortgeschrittene akademische Welt mit Bedeutungen aus der Peripherie zu verbinden, indem er die Erfahrungen und das traditionelle Wissen aus marginalisierten Gebieten anzapft. Darüber hinaus artikulierter diese außergewöhnlichen Dialoge durch skulpturale und poetische Formen. Er beschwört, in den Worten Aby Warburgs, die symbolische Verbindung zwischen einer „Kultur der Berührung und einer Kultur des Denkens“. (4)
Durch ihre taktile Geometrie sind Attias Skulpturen, so unbeweglich sie auch sein mögen, ungewöhnlich kinetisch. Stahlsplitter, Spiegelfragmente, Glasmosaik, Drahtgeflecht, Kupferfäden, Eisenklammern, Gummi, Schnur, Pappe und Holz bilden zusammen die gefallene Materie, mit der sich Attia auseinandersetzt. Großartig und doch bescheiden, wie die Angebote eines Markthändlers am Ende des Tages, repräsentieren diese kleinen Waren, so desolat sie auch sein mögen, die Welt. In Chaos + Repair = Universe flickt er die Scherben farbiger Spiegel zu einer unwahrscheinlichen Weltkugel zusammen. Durch die Spalten hindurch erscheint eine glänzende Vielfalt von autonomen Elementen, jedes mit seiner eigenen Farbe, Form und Geografie. Seine allegorische Konstruktion wird zur porte parole (Fürsprecherin) von René Girards Schneeballsystem des mimetischen Begehrens. Die Spiegel-Juwelen reflektieren die spiralförmige Leere der Konsumgier, ansteckend, scharfkantig und inhärent spaltend.
Die Kunstwerke von Kader Attia, die aus „Schnipseln und Fetzen der Geschichte, (die) keine Hierarchie kennen“ (5) zusammengesetzt sind, befassen sich mit dem, was er als „Metaphysik der Alltagsgegenstände“ bezeichnet. Jedes Objekt, das von jemandem hergestellt und bearbeitet wurde, trägt die greifbare Biografie dieser Person und ihrer Beziehungen zu anderen. Attia stellt die Handschrift des bescheidenen Mannes wieder her, der die zerbrochene Kalebasse repariert und sie mit Sorgfalt so anpasst, dass sie ihre ursprüngliche Funktion wiedererlangt. Diese Werkstatt des Lebens verdichtet sich in einer konkreten Geste der Hand, die durch die „kleine Wissenschaft“ (6) des täglichen Überlebens zum Ausdruck kommt. Das ist weit entfernt vom derzeitigen Kreislauf von „Produktion und Zerstörung“ (7), mit dem wir Waren in einer übermäßigen Geschwindigkeit des Konsums ersetzen und auf den neuesten Stand bringen. Es geht um die Konservierung gemeinsamer Geschichten, die wie „erstarrte Handlungen“ (8) sanft und poetisch in das häusliche Objekt eingraviert sind. Die Reparatur macht etwas wieder funktionsfähig und verändert dessen Ontologie auf eine Weise, die von der Person, die es ursprünglich hergestellt hat, nicht vorgesehen war. Ob von Hand mit der altertümlichen Methode der Stickerei zusammengefügt oder mit robotergestützter Nanotechnologie gelötet – letztlich führt dieser korrigierende und rekursive Prozess zum gleichen Ergebnis. Der archetypische Kettenstich der Heilchirurgie wird bis ins Unendliche wiederholt und seine Technik in der ewigen Hoffnung auf eine Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen aktualisiert. Attias Praxis erzählt von den mythischen Beziehungen zwischen Schaden und Heilung, wobei er oft das aufzeigt, was wir lieber ignorieren würden. Er lenkt unseren Blick zurück auf die forensischen Qualitäten der täglichen Existenz zwischen der Makropolitik des sozio-religiösen Zusammenbruchs und den intimen Verletzungen, Brüchen und Verrenkungen, die Individuen erleiden.
Und so kann argumentiert werden, dass die außergewöhnliche Kapazität von Attias Kunstwerken darin besteht, dass sie bewusst gebrochen sind, um abwesende Organe und fehlende Teile, Asymmetrien, die ausgeglichen werden müssen, oder kognitive Reaktionen, die kurz davor sind, ausgeführt zu werden, aufzuzeigen. Seine Skulpturen und Collagen regen die betrachtende Person dazu an, die epistemischen Ausfälle, Beeinträchtigungen und Strafen innerhalb der hierarchischen Reproduktion sozialer und ethischer Ungerechtigkeiten in der bildenden Kunst zu kompensieren. Unerbittlich, wie der hartnäckige Schmerz einer Phantom-Gliedmaße, machen seine Skulpturen unsere kritische Distanz zunichte. Sie injizieren uns in Sekundenbruchteilen ein Placebo, das unsere Erwartungen sowohl freisetzt als auch manipuliert. Bevor wir auch nur einen Gedanken fassen können, lesen wir den tektonischen Bezug des Kubismus zu afrikanischen Masken in den modularen Kartonverpackungen elektronischer Geräte. (9) Und doch ist Attias Arbeit weit entfernt von formalen Spielereien oder Kurzschlussreaktionen. Vielmehr geht es darum, einen größeren poetischen und politischen Rahmen für die dysfunktionalen Beziehungen zwischen Sehnsucht und Gewalt zu schaffen, die den Aufbau von Imperien in Raum und Zeit geprägt haben.
Nehmen wir die Stadt Ghardaia, die im 11. Jahrhundert von mozabitischen Architekt*innen im algerischen M'zab-Tal erbaut wurde und als Wunder der Technik gilt. Inspiriert von den Schriften des französischen Anthropologen Marcel Mercier, besuchte Le Corbusier 1931 Ghardaia. Dort entdeckte er zahlreiche Gestaltungslösungen, die er später für seine Cité Radieuse neu formulierte. 70 modernistische Jahre (und mehrere Jahrhunderte) später rekonstruiert Attia auf ausgefallene Weise ein Modell von Ghardaia aus Couscous-Körnern. Wie eine Burg aus Sand droht es, sobald es in einem Museum ausgestellt ist, zu zerbröckeln und sich aufzulösen, was unmögliche Formen der Rekonstruktion und Konservierung erfordert. Hier kommt seine Methodik des analogen Denkens besonders zur Geltung. Durch die Verwendung einer spezifischen, aus der täglichen Erfahrung gewonnenen Materialität stellt er einen ästhetischen Moment der kolonialen Ideologie auf den Kopf. Der „Couscous Ghardaia“ zeigt, dass die Quellen der französischen Stadtplanung in der Arbeiter*innenklasse der nordafrikanischen Amazigh liegen. Die zerbrechliche, skulpturale Monstrosität steht für die ungesehene Vernachlässigung, die schwer auf der postkolonialen Moderne Algeriens lastet und bis in die heutigen Pariser Vorstädte hinein zu spüren ist.
Was passiert also, wenn ein Kunstwerk die betrachtende Person bewusst dazu auffordert, das Ungleichgewicht und die Abwesenheit zu kompensieren, die etwas oder jemand anderes erzeugt hat? Welche Form der intellektuellen und ästhetischen Ergänzung führt Kader Attia durch sein Werk ein? Welche skulpturale Syntax verwendet er, um das erweiterte Kontinuum zu artikulieren, das das Konzept der „Reparatur“ charakterisiert? Attia faszinieren nämlich Formen, die ihre eigene Geschichte transportieren und die vor allem den menschlichen Körper mit seiner somatischen Aufladung widerspiegeln. Das Reparationsdogma der Moderne besteht seiner Auffassung nach in der Rückbesinnung auf das Perfekte, in der Suche nach dem authentischen, utopischen Organismus. Die kosmetische Chirurgie, zum Beispiel, versucht die Linien des menschlichen Alterns so zu verwischen, dass sich der Eingriff des Skalpells vollständig auflöst. Aber kein Organ kann genäht werden, ohne einen anderen Punkt im Körper zu beeinträchtigen. Wenn du die Haut nähst, durchstichst du sie: Du verletzt sie, um sie zu heilen. Durch diesen Einschnitt wird die Verletzung behoben: Das Subjekt überschreitet seinen ursprünglichen verwundeten Zustand und eine neue Topologie wird hervorgebracht. Wie Attias Untersuchungen zeigen, wird der Prozess des Zerbrechens durch die Reparatur nicht vermindert, sondern verstärkt, wodurch sich die Bedeutungen unkontrolliert ausbreiten können.
Es wäre irreführend, die Praxis von Kader Attia in eine anthropologische und eine künstlerische Dimension zu unterteilen. Er versucht nicht, zu erklären oder zu kontextualisieren, sondern neue Perspektiven für die Öffentlichkeit zu schaffen. Um dies zu erreichen, spaltet er seine künstlerische Identität auf, indem er mehrere Disziplinen miteinander verbindet. Er entwickelt dabei eine enthüllende Technik, eine Choreographie der Beziehungen zwischen scheinbar unvereinbaren Praktiken. In seinen Skulpturen, Collagen, Installationen, Performances und Fotografien experimentiert Attia mit den Grenzen und Fehlern des analogen Denkens. Durch die Herstellung von elliptischen Konstellationen fordert er uns auf, die blinden Flecken und Abgründe zu erkennen, die unser Wissen über die ästhetischen Praktiken der Welt prägen. Die Beziehungen, die er zwischen Ideen und Dingen herstellt, gehen über die formalistischen Affinitäten hinaus, die der Primitivismus in die Kunst des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat und durch die wir gelernt haben, Korrespondenzen zwischen afrikanischen Masken und fauvistischer oder expressionistischer Malerei zu akzeptieren. Sein Werk ist ein offenes System von „poröser Subjektivität“. (10) Anstatt den Status quo einzufrieren, stellt er greifbare Filter her, die die Schäden der Vergangenheit beheben. Ein von der Zeit verletzter Sakalava-Grabpfahl wird mit kleinen Tröpfchen einer Metalllegierung verschönert und repariert; eine Dogon-Maske erhält einen schimmernden und schützenden Panzer aus Spiegeln. Hier übt Attia Kritik an dem kontrollierenden Rahmen, der den heutigen Diskurs über afrikanische Kunst zu steuern versucht und ihn immer wieder auf eine auf Ethnizität und Herkunft basierende Argumentation zurückführt. Stattdessen fragt er: Können wir akzeptieren, dass wir nicht genug wissen? Können wir Möglichkeiten finden, mit Lücken und Abwesenheiten zu arbeiten, mit dem Nicht-Wissen, das diese Künstler*innen und deren Produktionen umgibt?
Kader Attia hat die umfangreichen Bestände der ethnografischen Museen des 19. Jahrhunderts mit ihren enormen Sammlungen außereuropäischer Kunst wiederholt besucht. Er hat die quasi geheimen Kabinette der josephitischen Missionar*innen betreten und Zugang zu den geheimen Sammlungen des Vatikans erhalten. So sind wir uns zum ersten Mal begegnet, als Attia 2012 ins Weltkulturen Museum in Frankfurt kam, um weitere Beispiele für beschädigte Waren ausfindig zu machen. Keiner anderen kunstschaffenden Person, die ich nennen kann, ist es gelungen, diese bewachten Katakomben der materiellen Kultur auf so systematische Weise zu infiltrieren. Attia hat dies erreicht, indem er einen scheinbar unbedeutenden Bereich der Klassifizierung identifiziert hat, der in der Datenbank keinen Status hat. Indem er nach Gegenständen fragt, die der nicht existierenden Kategorie des „reparierten Objekts“ angehören, macht er die Kette der Interdependenz sichtbar, die verschiedene Kulturen und ihre Praktiken miteinander verbindet.
Die von ihm ausgewählten Artefakte, die im Kanon der europäischen Kunstgeschichte vernachlässigt wurden, stellen epistemische Amputierte dar, Exemplare von Geschichten, die zerstückelt wurden. Sie sind in ganz Europa verstreut und bilden gemeinsam ein Reservoir an ästhetischer Energie, die in der Lähmung gehalten wird. Das „Spektro-Poetische“ (11) ist in ihre verdorbenen Körper eingraviert, die in den riesigen Lagern der ethnografischen Museen unzugänglich gemacht werden. Und so stehen all die Glasvitrinen, die in der Performance Arabischer Frühling zerbrochen werden, nicht nur für den verzweifelten Versuch eines Individuums, die techne der kolonialen Klassifizierung mit ihrem Diskurs der Darstellung und Kontrolle zu durchbrechen. Seine Aktion demonstriert die Machtlosigkeit und Kompromisslosigkeit der heutigen sozialen und ästhetischen Revolutionen, als würde er die Büchse der Pandora öffnen.
Kader Attia führt uns mit seinen Werken in die Zwiespältigkeit von Stolz und Trotz, die mit einer Geschichte von Verlust und Enteignung einhergeht. Und genau darin liegt der Widerspruch, den er zu enthüllen versucht: Das Dilemma des 21. Jahrhunderts mit seinen Überbleibseln einer modernistischen Faszination für die beschmutzte, eiternde Schattenseite der zivilisatorischen Unzufriedenheit, die dem zeitgenössischen Heldentum einer hygienezentrierten Post-Touch-Kondition gegenübersteht. Seine politisch aufgeladene Produktion lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den zyklischen Agonismus zwischen Verletzung und Reparatur. Die Subtraktion von Gliedmaßen, die die heutigen Geflüchteten aus Afghanistan, Libyen, Irak und Syrien tragen, die verstümmelt und mit Behinderungen nach Frankreich und in andere europäische Städte eingewandert sind, symbolisiert nicht nur einen Bruch in der sozialen Ordnung, sondern veranschaulicht auch die psychopathologischen Narben jahrhundertelanger religiöser Konflikte und industrieller Ausbeutung. (12) Hinter den Geheimnissen der Vergangenheit lauern Geistererscheinungen, die, wenn sie verdrängt werden, nur weitere gespenstische und phantomhafte Hinweise entladen.
Die Kunst von Kader Attia ist in ihrer Ausführung unnachgiebig physisch und doch hochgradig konzeptionell und bietet der Öffentlichkeit eine dynamische Verbindung zwischen politischen, sozialen und kognitiven Bereichen. Die normativen Rahmen der Anthropologie, der Neurowissenschaften und der Medizin werden zu einem neuen poetischen Strang verflochten. Nicht unähnlich der ideogrammatischen Poesie von Guillaume Apollinaire oder Pierre Albert-Birot, wenn er schreibt: „Nous sommes des circonférences“ (13), oder sogar den Liedtexten von Lou Reed in „I'll be your mirror“, vollziehen die Kunstwerke von Attia eine nicht enden wollende Operation an der Sprache, dem Bild und dem Volumen. Sein Konzept der Phantom-Gliedmaße in der Kunst ist zwischen dem „objet ambigu“ von Paul Valéry und dem „Ready-Made“ von Marcel Duchamp einzuordnen. Von Valéry behalten wir die poetische Ungewissheit der Bedeutungen, die Verwischung von Natur und Kultur, das Objekt am Rande des Unbekannten. (14) Bei Duchamp ist das Artefakt austauschbar, industriell hergestellt und im Wesentlichen anonym. Im Gegensatz dazu bleibt für Kader Attia ein repariertes Objekt ein Organ. Es zeigt die aktive DNA seiner eigenen Morphologie, die absichtlichen Spuren der Aneignung und die poetischen Spuren des Vergehens der Zeit.
Und so verweist die künstlerische Praxis von Kader Attia auf eine intensive Beschäftigung mit ästhetischem und psychologischem Ungleichgewicht – dem Ungleichgewicht, das durch eine Ideologie der Perfektion und des Konsums entsteht. Ob wir auf zusammengeheftete Spiegelscherben blicken, die nur ein partielles Bild ergeben, oder die Bricolage eines Pappfahrgestells auf einem Motorroller betrachten, weist uns Attia auf die ideologischen Schwachstellen und materiellen Ausfransungen hin, die unsere zusammengewachsene, postkoloniale Gegenwart bestimmen. Seine Installationen erscheinen glatt und kohärent, seine Objekte verführerisch und entschlossen, doch es ist die Sensibilität, mit der er die beunruhigende Entstellung der Geschichte und die Zersplitterung des individuellen Gedächtnisses artikuliert, die sein Gesamtwerk so zeitgemäß, rigoros und poetisch zugleich macht.
Endnoten
(1) Die englische Version dieses Texts wurde erstmals veröffentlicht in Galleria Continua, Hrsg., Kader Attia: Reflecting Memory (Prato: Gli Ori, 2016).
(2) Eine besonders prägnante Darstellung des Begriffs Kontinuum findet sich in der Installation von Kader Attia Continuum of Repair: The Light of Jacob’s Ladder, Whitechapel Gallery, London, November 2013–2014.
(3) Interessanterweise besprechen sowohl Carl Einstein als auch Frantz Fanon auf ihre spezifische Weise das Phänomen der Fragmentierung. Carl Einstein verfolgt einen eher psychoanalytischen Ansatz, indem er schreibt, dass „ein weitreichender Zustand im Fragment konzentriert ist. (...) Dies ist die ekstatische Isolation. Durch Enthauptung und Zerstückelung isoliert man das, was entscheidend ist: konzentrierte Besessenheit und Sadismus.“ Siehe „L’enfance néolitique (Hans Arp)“, Documents II, 8, 1930, Übersetzung Charles W. Haxthausen, in October 105, Sommer 2003.
Frantz Fanon hingegen spricht von „Tinkturen des Verfalls“ und „psychischen Störungen“, die auftreten, wenn man „dem anderen alle Attribute des Menschseins“ abspricht, d.h. eine Ganzheit der Wirklichkeitsauffassung. Siehe Frantz Fanon, „Colonial War and Mental Disorders“, in The Wretched of the Earth, 1965, Übersetzung Constance Farrington, abgedruckt in Kader Attia und Léa Gauthier, Hrsg., Kader Attia. RepaiR (Paris: BlackJack Editions, 2014), S. 436.
(4) „Between a culture of touch and a culture of thought is the culture of symbolic connection.“ Aby Warburg, Images from the Region of the Pueblo Indians of North America (Ithaca/London: Cornell University Press, 1995), S. 17.
(5) Ursula Marx, Gudrun Schwarz, Michael Schwarz, Erdmut Wizisla, Hrsg., Walter Benjamin’s Archive, Übersetzung Ester Leslie (London: Verso, 2007), S. 32.
(6) In Metaphysiques Cannibales. Lignes d’anthropologie structural beschreibt Eduardo Viveiros de Castro seinen ursprünglichen Wunsch, ein Buch nach dem Vorbild von Deleuze und Guattaris Anti-Ödipus zu schreiben. In seinem Fall spekuliert er, dass der akademische Narzissmus der abendländischen Anthropologie dem Status einer „kleinen Wissenschaft“ weichen könnte, die sich ihrem Gegenstand unterordnet: den Menschen, die sie studiert. Eduardo Viveiros de Castro, Métaphysiques Cannibales (Paris: PUF, 2009), S. 3.
(7) Siehe Philippe Dagen, „Destruction et Réparation“ in Susanne Gaensheimer und Klaus Görner (MMK), Hrsg., Kader Attia, Sacrifice and Harmony (Berlin/Bielefeld: Kerber, 2016), S. 82.
(8) „Les artefacts possèdent une ontologie ambiguë: ce sont des objets, mais ils indiquent nécessairement un sujet, car ils sont comme des actions congelées, des incarnations matérielles d’une intentionnalité non matérielle.” Viveiros de Castro, „Métaphysiques Cannibales“, S.28.
(9) „[I]l nous semble que les formes tectoniques, n’étant pas mesurables, sont les formes les plus humaines, parce qu’elles sont les signes d’un homme visuellement actif agençant lui-même son univers et refusant d’être l’esclave des formes données.“ Carl Einstein, „Notes sur le cubism“, in Sebastian Zeidler, Life and Death from Babylon to Picasso: Carl Einstein’s Ontology of Art at the Time of Documents, veröffentlicht in Papers of Surrealism, 7, 2007.
(10) Serge Grusinski interviewt in Reason’s Oxymorons, Kader Attia, Videoinstallation mit 22 Filmen bei Galerie Nagel Draxler, 2015.
(11) Jacques Derrida, Spectres de Marx (Paris: Éditions Galilée, 1993).
(12) René Girard schreibt: „Le corps humain est un système de différences anatomiques. Si l’infirmité même accidentelle, inquiète, c’est parce qu’elle donne une impression de dynamisme déstabilisant. Elle paraît menacer le système en tant que tel. On cherche à la circonscrire mais on ne peut pas; elle affole autour d’elle les différences qui deviennent monstrueuses, elles se précipitent, se télescopent, se mélangent, à la limite menacent de s’abolir. La différence hors système terrifie parce qu’elle suggère la vérité du système, sa relativité, sa fragilité, sa mortalité!“ In René Girard, Le Bouc Emissaire (Paris: Grasset, 1982), S. 34.
(13) Pierre Albert-Birot, „Poème au mort“, in La Lune ou le livre des poèmes, 1924, wiederveröffentlicht in Pierre Albert-Birot, Poésie 1916-1924 (Mortemart: Rougerie, 1992), S. 199–202.
(14) Paul Valéry schreibt: „Le hazard, dans mes mains, vint placer l’objet du monde le plus ambigu. Et les réflexions infinies qu’il me fît faire, pouvaient aussi bien me conduire à ce philosophe que je fus, qu’à l’artiste que je n’ai pas été.“ In Paul Valéry, EUPALINOS ou l’Architecte (Paris: NRF, 1921), S. 49.

YOYI! Care, Repair, Heal, Kader Attia: On Silence, Installationsansicht, Gropius Bau (2022). Prothesen, variable Maße
Foto: Laura Fiorio