Im Resonanzraum des Oktobers

Keynote von Felix Klopotek

Vom emanzipatorischen Weckruf der „October Revolution in Jazz“ im New York der 1960er Jahre spannt Felix Klopotek einen Bogen zu aktuellen Schrumpfformen von „Improvisation“ und fluiden Prozessen im gesellschaftlichen Mainstream und der betriebswirtschaftlichen Ideologie von heute.

New York, Herbst 1964. Zum ersten Mal gebündelt und sichtbar als Szene, Koalition und Netzwerk betritt eine junge Generation von Musiker*innen – darunter Organisator Bill Dixon, Cecil Taylor, John Tchicai, Paul Bley und Sun Ra – die Bühne, um ihre radikalen Entwürfe von Jazz und Improvisation vorzustellen. Man einigt sich auf ein durchaus überraschendes Label: Das Ereignis geht als „The October Revolution in Jazz“ in die Musikgeschichte ein. So verwegen-provokant der direkte Bezug zur Russischen Revolution auf den ersten Blick erscheinen mag, relativiert er sich mit dem zweiten: Die Befreiung der Improvisation zum „Free Jazz“ oder zur „New Improvised Music“ war von Anfang an sowohl politisch als auch utopisch aufgeladen. Im Klang selbst fand sich ein Moment der Befreiung: in der Radikalisierung der Dissonanz, im Unreinen („unsauber Gespielten“), in der Loslösung von überlieferten harmonischen oder rhythmischen Schemata, in der Entdeckung der Musikalität der Umwelt. Dieser freie Klang sollte ein Zusammenspiel ermöglichen, das sich seine Regeln im Moment des Ereignisses selbst schafft – ohne vorgegebene Strukturen, ohne Hierarchien, ohne Zwangsneurosen und Meister*in-Schüler*in-Verhältnis. Es liegt nahe, dass diese Haltung zum Klang mit einem radikalen Zweifel gegenüber gesellschaftlichen Zwangsneurosen und einem Aufbegehren gegen als repressiv empfundenen Strukturen einherging – und sich um diesen Sound eine gegenkulturelle Szene bildete. Die Kollektive, die sich diese Musik erarbeiteten und ihre Produktionsbedingungen mitbestimmten, verstanden sich als Platzhalter*innen eines umfassenderen gesellschaftlichen Aufbruchs.

Fastforward. Heute sind „Improvisation“, Mut zu disruptiven Entscheidungen, disruptivem Denken und Handeln in Netzwerken und fluiden Kollektiven tief in den gesellschaftlichen Mainstream und in die betriebswirtschaftliche Ideologie eingesickert, ohne dass diese Tatsache auf eine Verwirklichung der Utopien der 1960er Jahre hinausläuft. Im Gegenteil: Diese einst radikalen Haltungen können sich ebenso gut als Strategien der Selbstoptimierung und als marktkonformes Verhalten erweisen.

Wie reagieren Musiker*innen darauf? Der Backlash gegen die oben beschriebene Bewegung erfolgte spätestens in den 1980er Jahren. Verschwunden ist sie jedoch nie. Die Wiederentdeckung seit der Jahrtausendwende und die Überführung in neue Improvisationshaltungen demonstrieren ihre ungebrochene Vitalität. Die Keynote wird diese Geschichte skizzieren, ihre Protagonist*innen und deren „Thesen“ vorstellen und die Frage nach dem Unabgegoltenen stellen.

Felix Klopotek, 1974 geboren, lebt und arbeitet in Köln. Er ist Musikredakteur beim Stadtmagazin Stadtrevue. Zwischen 1998 und 2010 produzierte er für das Label GROB über 60 Alben aus den Bereichen Freie Improvisation und Neue Musik. In den letzten Jahren beschäftigte er sich vor allem mit den „Dissidenten der Arbeiterbewegung“ und hat unter anderem 2016 zusammen mit Peter Scheiffele den Reader „Zonen der Selbstoptimierung“ (Matthes & Seitz) herausgegeben. Die Entwicklungen innerhalb der Improvisationsmusik hat Felix Klopotek dabei nie aus den Augen verloren.