Lucia Dlugoszewski bei einer Aufführung von „Geography of Noon“

Courtesy of the Erick Hawkins Dance Foundation, Inc.

Lucia Dlugoszewski

„Das Hören hat etwas an sich, das über die Beschäftigung mit Mustern, Informationen, Symbolen, Sprache und Kommunikation hinausgeht – etwas, das so außergewöhnlich ist, dass es Menschen dazu veranlasst, ihr Leben dem Komponieren, Musikmachen oder Zuhören zu verschreiben.“

Lucia Dlugoszewski

Wie man nicht berühmt wird

Die Komponistin, Performerin, Instrumentenerfinderin, Autorin und Choreografin Lucia Dlugoszewski

„Sie hat gemacht, was ich immer meinen Studierenden sage. Bewahrt euch eure Freiheit, verdient Geld und fliegt unter dem Radar.“ Der mit Lucia Dlugoszewski eng befreundete New Yorker Posaunist David Taylor bekommt noch heute strahlende Augen, wenn er von seiner langjährigen künstlerischen Weggefährtin spricht, die einige Werke für ihn komponierte. In einem der drei Punkte allerdings irrt er sich. Die im Jahr 2000 in New York verstorbene Dlugoszewski hat sich zwar fast immer unterhalb der Aufmerksamkeitsgrenze der Musikszene bewegt. Bis heute ist sie in Europa, aber auch in den USA so gut wie unbekannt. Und auch ihre Freiheit hat sie stets behauptet. Nur mit dem Geld hat es nie ganz geklappt. Alles, was sie verdiente (und das war nicht viel), floss gleich wieder zurück in die Kunst.

Lucia Dlugoszewski mit Partitur und Fingerhüten für „8 clear places“

Courtesy of the Erick Hawkins Dance Foundation, Inc.

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ANFÄNGE IN DETROIT UND NEW YORK

Die Musik, die ich „zu alt zu schreiben bin“

Lucia Dlugoszewski kommt 1925 (nicht 1931, wie sie selbst manchmal angab) in Detroit als Tochter polnischer Einwander*innen zur Welt. Früh zeigt sie Begabung am Klavier und beim Schreiben, aber auch schon beim Komponieren. 1948 geht sie mit einem Stipendium nach New York und studiert privat bei John Cage, Edgard Varèse und der Pianistin Grete Sultan, mit denen sie bald eng befreundet ist, auch wenn John Cage vorgibt, sich ihren Namen nicht merken zu können, als er Pierre Boulez in einem Brief von zwei talentierten Schüler*innen schreibt: „Der eine ist Christian Wolff. Den Namen der Polin weiß ich nicht, der ist zu kompliziert.“

Als Arnold Schönberg 1950 seinen ehemaligen Studenten John Cage besucht, ist auch Lucia Dlugoszewski eingeladen und spielt eine ihrer Klaviersonaten. Trocken kommentiert der Altmeister das Stück als „eine der neuen mutigen Musiken, die ich zu alt zu schreiben bin“. Dlugoszewskis erste Bühnen sind die Ateliers befreundeter Künstler*innen und Musiker*innen oder kleine Jazzclubs wie das Five Spot in New York. Sie spielt dort nicht nur ihre Sonaten, sondern performt von Anfang an auch im Inneren des Flügels oder auf Alltagsgegenständen wie Glas, Papier, Porzellan, kochenden und pfeifenden Teekesseln, Schreibmaschinen oder Streichhölzern. Zwischen sich und das Publikum spannt sie bei diesen Aufführungen einen Vorhang, damit – anders als bei John Cage – das Visuelle nicht von den Klängen ablenkt.

Agnese Toniutti spielt „Exacerbated Subtlety Concert (Why Does a Woman Love a Man?)” von Lucia Dlugoszewski.

Von Klängen ist Lucia Dlugoszewski, die ihren Vornamen „Luhscha“ aussprechen lässt, wie besessen. Für die Tanzproduktionen des Martha-Graham-Schülers Erick Hawkins, an welchen John Cage sie vermittelt, schreibt sie nicht nur extrem virtuose Partituren, sie erfindet auch neue Instrumente: Harfen aus Holz, Glas, Metall und Papier, Rasseln und viereckige Trommeln. Erhalten ist auch eine Reihe von Perkussionsinstrumenten, die an chinesische Handtrommeln erinnern. Manche sehen wie eckige Tischtennisschläger aus, andere wie Äxte. An beiden Seiten sind jeweils Fäden mit Kugeln befestigt, die beim Drehen auf die Objekte prallen.

„Ich wollte dem Ohr dabei helfen, den Klang um seiner selbst willen zu hören.“

Lucia Dlugoszewski

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ÄSTHETIK

Radikal, rein, unmittelbar

Ihre Ästhetik hat Lucia Dlugoszewski in Briefen und theoretischen Texten, aber auch in wild collagierten Werktiteln wie „Disparate Stairway Radical Other“ oder „Tender Theatre Flight Nageire“ reflektiert. Unter ihren Schlüsselbegriffen stehen das „Theater“ für die Unmittelbarkeit der Erfahrung, die „Radikalität“ für den extremen Willen zu berühren und der „Flug“ für Risiko und Utopie.

„Mehr denn je war ich mir der Zerbrechlichkeit des Klangs bewusst, wenn der Klang Musik ist. Ich war einer reinen, radikal empirischen Unmittelbarkeit verpflichtet, jenseits von Klassizismus und Romantik. Die Verpflichtung bestand darin, Musik an sich zu machen, Musik zum Klingen zu bringen, Musik lebendig zu machen.“

„Das erste Anliegen aller Musik ist es, auf irgendeine Weise die Gleichgültigkeit des Hörens, die Gefühllosigkeit der Empfindung zu erschüttern, und jenen Moment der Befreiung zu schaffen, den wir Poesie nennen, unsere Erstarrung zu lösen, sodass wir wie neugeboren erscheinen – als würden wir zum ersten Mal hören. ‚Tender Theater Flight Nageire‘ ist eine Reihe musikalischer Rituale, die auf den poetischen Wurzeln erotischer Erfahrung basieren.“

Lucia Dlugoszewski

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TANZ

Erick Hawkins Dance Company

Die Erick Hawkins Dance Company wird Lucia Dlugoszewskis wichtigster, fast ausschließlicher Wirkungskreis. Nicht nur, weil Hawkins und sie ein Paar werden. Auch deshalb, weil ihre Musik bald unmittelbar aus der choreographischen Arbeit entsteht. Dass ihre Kompositionen auch auf der Konzertbühne Bestand hätten, war Dlugoszewski bewusst. Einen Verlag hat sie sich dennoch nie gesucht. Wären ihre Werke an einen Verlag gebunden gewesen, hätte sich die Hawkins Dance Company die Rechte an den für die eigenen Produktionen entstandenen Werken nicht mehr leisten können. Auch deshalb blieb ihr Schaffen bis heute fast unbekannt.

Katherine Duke, künstlerische Leiterin von Erick Hawkins Dance, führt „Fountain in the Middle of the Room“ auf. Choreografie und Musik von Lucia Dlugoszewski.

Lediglich Anfang der 1970er-Jahre wird der Radar des Musikbetriebs Dlugoszewski eine Zeit lang erfassen. 1975 dirigiert Pierre Boulez die Uraufführung ihres Trompetenkonzerts „Abyss and Caress“. Und 1980 erhält sie für ihr Orchesterwerk „Fire Fragile Flight“ als erste Frau überhaupt den Koussevitzky International Recording Award. Dass sie anschließend nicht über New York hinaus auf sich aufmerksam macht, überrascht. Der wichtigste Grund dafür, dass sie weiterhin unter dem Radar fliegt und das Geldverdienen eine Sorge bleibt, ist die Tanzkompanie, die sie nach dem Tod von Erick Hawkins leitet.

Lucia Dlugoszeski mit Papierrassell für „8 clear places“

Courtesy of the Erick Hawkins Dance Foundation, Inc.

Ihre Musik bleibt zu entdecken: ein Werk, das die Ekstase sucht, voller Überraschungen, geballter Bewegungsenergie, Klangphantasie, virtuosen Herausforderungen – assoziativ, impulsiv und immer auf der Suche nach dem intensiven Moment. Wer den Beginn des Solos „Space is a Diamond“ hört, erlebt eine Trompete, die kaum noch der Schwerkraft verpflichtet scheint, unablässig auf der Reise in neue, extreme Register. Und im Streichquartett „Disparate Stairway Radical Other“ scheint die Bewegungsenergie unerschöpflich. Mal sind die Figuren klar und archaisch, dann wieder verspielt, oft repetitiv. Auch Erinnerungen an fernöstliche Musik werden wach, die aber geradezu übermütig in Szene gesetzt werden, ganz anders als in den zeitgleichen Werken ihrer ehrfürchtig-akademischen europäischen Kolleg*innen.

Lucia Dlugoszewski war es wichtig, dass sie stets auch selbst Performerin geblieben ist: ob am „Timbre Piano“, wie ein Kritiker das von ihr bespielte Klavier taufte, oder mit ihrem eigenen Instrumentarium. Sie hat es ernst gemeint mit dem „Theater“, wie sich David Taylor erinnert: „Manchmal weiß man nicht, warum man auf der Bühne steht. Manchmal, weil man sich präsentieren will, manchmal aber auch, weil man die Musik rüberbringen will und sich zugleich profiliert. Mit ihr ging es einfach nur um die Unmittelbarkeit: Bring es rüber. Bring unser Gefühl, unser Statement, unseren ganzen Körper rüber.“ Versucht haben das mit Sicherheit einige. Wer die Musik von Dlugoszewski hört, wird jedoch nicht an die vielen ähnlich klingenden Slogans der kompositorischen Selbstvermarktung denken. Eher an eine seltsam intensive Begegnung von asketischer Strenge und opulentem Klangrausch, von extremer Virtuosität und unbändiger Spielfreude.

 

Über die Autorin: Martina Seeber ist Musikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie moderiert Radiosendungen, Gespräche und Live-Konzerte und ist Redakteurin für Neue Musik beim SWR in Stuttgart.

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LUCIA DLUGOSZEWSKI IM PROGRAMM VON MAERZMUSIK 2023

Contemplations into the Radical Others

Werke von Lucia Dlugoszewski im Programm von MaerzMusik 2023

Agnese Toniutti

Die italienische Pianistin Agnese Toniutti hat sich der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts verschrieben. Als Interpretin und Autorin widmet sie sich der Erforschung eines besonderen Klavierrepertoires, das oftmals um das Konzept des Klangs und dessen Rolle in der Komposition kreist, sowie den Wechselwirkungen zwischen Komposition und Improvisation. Ihre Solokonzerte sind meist thematisch oder monografisch konzipiert und ergänzen die Live-Performance mit Auszügen aus Schriften und Audiodokumenten, die die Künstlerin nach musikalischer, bibliografischer und archivarischer Recherche ausgewählt hat. Dazu gehören die monografischen „Porträts“ von Giacinto Scelsi, John Cage und Giancarlo Cardini sowie Konzerte, die der Fluxus-Bewegung (mit Uraufführungen der Werke von Philip Corner und Dick Higgins) und der Kreativität von Frauen von den 1950er-Jahren bis heute gewidmet sind (einschließlich Lucia Dlugoszewskis Forschungsprojekt zum „timbre piano“). Zu Toniuttis jüngsten Projekten gehört die Veröffentlichung von „Subtle Matters“ (Neuma Records, 2021) mit Kompositionen von Lucia Dlugoszewski, Tan Dun und Philip Corner.

Agnese Toniutti

© Laura Battel

Agnese Toniutti im Gespräch mit Sophie Emilie Beha über Lucia Dlugoszewski, den Flow in ihrer Musik und wie sich Toniutti eine Partitur für Exacerbated Subtlety Concert „zusammengebastelt“ hat.

Ensemble Musikfabrik

Seit seiner Gründung 1990 zählt das Ensemble Musikfabrik zu den führenden Klangkörpern der zeitgenössischen Musik. Dem Anspruch des eigenen Namens folgend, ist das Ensemble Musikfabrik in besonderem Maße der künstlerischen Innovation verpflichtet. Neue, unbekannte, in ihrer medialen Form ungewöhnliche und oft erst eigens in Auftrag gegebene Werke sind sein eigentliches Produktionsfeld. Die Ergebnisse dieser häufig in enger Kooperation mit den Komponist*innen geleisteten Arbeit präsentiert das in Köln beheimatete, internationale Solist*innenensemble in jährlich etwa 80 Konzerten im In- und Ausland, auf Festivals, in der eigenen Uraufführungsreihe „Musikfabrik im WDR“ und in regelmäßigen Audioproduktionen für den Rundfunk und CD-Markt. Alle wesentlichen Entscheidungen werden dabei von den Musiker*innen in Eigenverantwortung selbst getroffen. Die Auseinandersetzung mit modernen Kommunikationsformen und experimentellen Ausdrucksmöglichkeiten im Musik- und Performance-Bereich ist ihnen ein zentrales Anliegen. Interdisziplinäre Projekte unter Einbeziehung von Live-Elektronik, Tanz, Theater, Film, Literatur und bildender Kunst erweitern die herkömmliche Form des dirigierten Ensemblekonzerts ebenso wie Kammermusik und die immer wieder gesuchte Konfrontation mit formal offenen Werken und Improvisationen.

Ensemble Musikfabrik

© Frederike Wetzels

Die Instrumentenerfinderin

Lucia Dlugoszewski hat über 100 Perkussionsinstrumente erfunden. Der Instrumentenbauer Thomas Meixner hat im Autrag von MaerzMusik für das Ensemble Musikfabrik, basierend auf Skizzen von Dlugoszewski, einige nachgebaut. Beim Konzert am 24.3.2023 im Haus der Berliner Festspiele werden sie zum ersten Mal erklingen.

Redaktion Story: Sophie Emilie Beha, Kamila Metwaly, Paul Rabe

Gefördert durch

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„Contemplations into the Radical Others“ ist ein Langzeitprojekt von MaerzMusik in Kooperation mit der Erick Hawkins Dance Company, dem Ensemble Musikfabrik, Agnese Toniutti und vielen anderen.