Verschiedene Lautsprechermodelle stehen auf einer Bühne und sind rot beleuchtet.

Das Acousmonium beim Festival Présences électronique

Foto: Didier Allard, © INA grm

Das Lautsprecherorchester: Acousmonium

Hören ohne Erkennen

Seit den 1950er-Jahren beschäftigten sich Komponist*innen mit der Frage, wie Musique concrète und elektroakustische Werke in Konzertsituationen wirkungsvoll präsentiert und aufgeführt werden können. Das Bestreben entsprang der wachsenden Faszination für die fortschreitende Aufnahme- und Studiotechnik, die zugleich die weltweite Erforschung von konservierten und bearbeiteten Klängen im frühen 20. Jahrhundert ermöglichte. Das Konzept des Lautsprecherorchesters, das eng mit diesen Entwicklungen und Fragen verknüpft ist, regte dazu an, die Erfahrung des Zuhörens neu zu kalibrieren und eröffnete neue Möglichkeiten, wie Zuhören durch technologische Mittel kontinuierlich konfiguriert und umgestaltet werden kann.

„In der elektroakustischen Musik haben wir mit Schaeffer gelernt, unseren Blickwinkel zu verändern, etwas zu hören, das Klang ist und nicht das, was den Klang erzeugt. Wir hören, wenn es ein Auto, eine Stimme oder eine Geige ist – aber wir können auch etwas anderes hören. Ich weiß nicht, wie andere Musik machen, aber ich mache Musik basierend auf dieser anderen Art des Hörens.“

Beatriz Ferreyra

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Lautsprecher statt Performer*innen

Acousmonium

Das Acousmonium ist ein Orchester aus Lautsprechern, die nicht nur vor, sondern auch um und im Publikumssaal angeordnet sind. Gesteuert wird das Orchester von einer Person, die die musikalische Arbeit über ein Steuerpult, das die Diffusion regelt, in den Raum projiziert. Je nach Werk kann die Anordnung der Lautsprecher und damit die Gestalt des Acousmoniums variieren. 1974 von François Bayle als Mitglied der Groupe de Recherches Musicales (GRM) entworfen, wurde das Acousmonium im selben Jahr im Espace Cardin in Paris in Betrieb genommen. Heute wird es noch immer hauptsächlich für die Präsentation akusmatischer Werke verwendet, wobei zunehmend auch interdisziplinäre Musikformen, improvisierte Musik und Multimedia über das Acousmonium zur Aufführung kommen.

Seit 1974 wurde das Acousmonium nicht nur technologisch auf den neuesten Stand gebracht, sondern hat auch konzeptionelle Veränderungen erfahren. So werden die Bedingungen für die Aufführung des akusmatischen„Akusmatisch“ beschreibt jene Form der auditiven Wahrnehmung, bei der die Klangerzeugungsmittel und damit die ursprünglichen Quellen der Geräusche unerkannt bleiben. In Bezug auf Musik bezieht sich der Begriff auf Kompositionen, die speziell für Lautsprecher kreiert wurden und eine Situation reinen Hörens anstreben. Werks bereits im Studio, im Moment der Komposition, bestimmt. Während der Aufführung geht es vielmehr darum, die dem Werk immanenten Möglichkeiten vollends auszuschöpfen, indem das Werk im physischen Raum ausgedehnt wird. Auf diese Weise schafft das Lautsprecherorchester eine Verbundenheit zu den immersiven Qualitäten des Klangs und unterstreicht die transformative Gemeinschaft der Musik.

Nahaufnahme von einem weißen, runden Lautsprecher mit pinkem Detail.

Foto: Didier Allard, © INA grm

INA grm

Im Jahr 1958 vom Komponisten Pierre Schaeffer als Nachfolge der Groupe de Recherches de Musique Concrète (GRMC) gegründet, ist die Groupe de Recherches Musicales (GRM) eine von mehreren theoretisch und zugleich experimentell arbeitenden Gruppen, die ab 1960 unter dem Dach des „Service de la Recherche“ des französischen Rundfunks agierten. Noch heute in Paris angesiedelt und seit 1975 Teil des Institut National de l’Audiovisuel (INA), zielt GRM darauf ab, klangliches Kulturerbe zu erhalten und zu fördern. Zahlreiche Komponist*innen, die für die Musique concrète prägend waren, werden mit der Gruppe in Verbindung gebracht, darunter Pierre Henry, Pierre Schaeffer, Éliane Radigue, François Bayle, Guy Reibel, Bernard Parmegiani, Luc Ferrari, Beatriz Ferreyra und Ivo Malec.

Pierre Schaeffer steht an einem Tonbandgerät

Pierre Schaeffer am Phonogène  – einem Tonbandgerät mit Mehrfachgeschwindigkeit und Tastatursteuerung, 1955 © Serge Lido

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Das Erbe von INA grm

Gewohnheiten in Frage stellen

Während in akusmatischen Konzerten die Bedingungen für die Entstehung und Rezeption von Klang verhandelt werden, werden diese Erfahrungen zunehmend durch moderne, oftmals fragmentierte Hörgewohnheiten in Frage gestellt. In den letzten Jahrzehnten wurden diese Gewohnheiten von komprimierten Audiodateien dominiert, die über tragbare Lautsprecher, In-Ear-Kopfhörer und digitale Streaming-Plattformen, die meist über Computerlautsprecher ausgespielt werden, verbreitet wurden.

Inmitten dieser sensorischen und erfahrungsbezogenen Entwicklungen und technologischen Revolutionen nimmt das Erbe von INA grm (Groupe de Recherches Musicales) und Musique concrète eine besondere Rolle ein. François J. Bonnet, der aktuelle Direktor des französischen Musikforschungsinstituts, stellt fest, dass INA grm maßgeblich dazu beigetragen habe, klassische und instrumentale Traditionen in Frage zu stellen und die Konzeption und Wahrnehmung des Klangs selbst sowohl als Ausgangsmaterial als auch als Prozess neu zu definieren. INA grm stehe damit an vorderster Front, wenn es darum geht, den Begriff des Komponierens innerhalb der westlichen Tradition neu zu überdenken und gleichzeitig neue Ideen über das „Schreiben“ von Musik und die Auseinandersetzung mit der Materialität von Klang einzuführen.

„Die von Lautsprechern projizierten akustischen Bilder verändern die Art und Weise, wie wir an die Frage nach der Wechselwirkung von Musik und Publikum herantreten. Diese neue Situation zwingt uns, uns zu neuen Fragestellungen zu positionieren, und führt uns zu neuen Reaktionen. Diese vielfältige poetische Musik versammelt sich um einen gemeinsamen Nenner: das Hörsystem.“

François Bayle

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Musik als sensorische Erfahrung

3-Dimensionales Klangerleben

Nicht nur in Europa, sondern auch auf anderen Kontinenten beschäftigten sich Komponist*innen mit ähnlichen Fragen: in Kairo postulierte 1944 Halim El-Dabh, dass die reinste Form der Beziehung zu dieser Welt über Klang zu finden ist. Und zwar Klang, der noch vor der Erfindung der modernen Musikinstrumente entstand. Und auch in den USA betonte Alvin Lucier in den 1960ern die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit von der Konzeption und Erzeugung des Klangs auf seine Ausbreitung zu verlagern, indem er feststellte, dass geschriebene Noten zweidimensionale Symbole eines dreidimensionalen Klangphänomens sind. Diese komplexe Beziehung zwischen Zuhörer*innen und der technologischen Immersion ermöglicht dem Publikum eine sensorische Erfahrung, die nicht nur auf dem visuellen Bereich oder den physischen Dimensionen des Hörens basiert, sondern die räumliche Erfahrung und die Musikpräsentation miteinander in Beziehung setzt.

Eines der Anliegen des Eröffnungskonzerts des Festivals ist die Hinterfragung, Umformung und Auseinandersetzung mit Hörgewohnheiten, Schrift und technischen Geräten, die Klang zerstreuen. Mithilfe akusmatischer Erfahrungen steigert sich das Wahrnehmungsbewusstsein der Zuhörer*innen, das zugleich in Bereiche und Dimensionen musikalischer Tiefen eintaucht. Diese Konvergenz deckt sich mit den laufenden Versuchen von Komponist*innen und Akustiker*innen, neue Situationen zu schaffen, in denen Komposition von neuen, sich entwickelnden Ästhetiken inspiriert wird, die durch die Manipulation der Audiotechnologie entsteht. Das Zusammenspiel von Komposition und Wahrnehmung schafft ein transzendentes Hörerlebnis, das durch die Zeit hindurch nachhallt und einen kontinuierlichen Dialog zwischen künstlerischer Innovation und den Möglichkeiten der Klangwahrnehmung und ihrer Verbreitung in Geschichte und Gegenwart widerspiegelt.

Das Acousmonium bei MaerzMusik 2024

Mit besonderen Dank an INA grm