Pressemeldung vom 21.2.2024

Wortmarke Gropius Bau

Pallavi Paul: How Love Moves

Der Gropius Bau präsentiert die erste große Einzelausstellung der in Berlin und Neu-Delhi lebenden Künstlerin und Filmwissenschaftlerin Pallavi Paul. How Love Moves zeigt ihre frühen Bewegtbild-Arbeiten neben jüngsten Filmproduktionen sowie immersiven Rauminstallationen, die während Pauls Zeit als Artist in Resident des Gropius Bau für die Ausstellung konzipiert wurden und sich über sechs Räume im Obergeschoss erstrecken.

Pallavi Paul nutzt die Kamera als Instrument, um zu hinterfragen, wie „Wahrheits”-Regime im öffentlichen Leben produziert und aufrechterhalten werden. In ihrer multimedialen Praxis, die Film, Installation, Performance, Zeichnung, Fotografie und Text umfasst, verhandelt sie das Dokumentarische nicht nur als Film oder Bild, sondern als eine Ökologie von Materialien und Netzwerken globaler Allianzen, Gedankensystemen und Orten der Empfindung.

Mit den Mitteln der Poesie und des Filmischen reflektiert How Love Moves den Atem als planetare Sprache und kontinuierlichen Prozess der Zirkulation im Kontext globaler Krisen in Gesundheitssystemen. Die Ausstellung untersucht Krankheit nicht als Metapher, sondern als ethisches, spirituelles und biopolitisches Phänomen in Berlin, Neu-Delhi und darüber hinaus. Innerhalb neuer Filmproduktionen stellt sie eine Verbindung zwischen der COVID-19-Pandemie und der Ausbreitung der Tuberkulose zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland her. How Love Moves beschäftigt sich auch mit der Vergänglichkeit des Seins und der Trauer sowie dem Fortbestehen der Erinnerung – und weckt dabei eine Vielfalt von Sehnsüchten.

„Atmen bedeutet, sich an unsere individuelle und gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und unseren Pakt mit der Zukunft zu erneuern. In dieser Ausstellung möchte ich die Zeit eines Atemzugs als filmischen Akt entfalten: Der Atem derer, die jetzt leben, derer, die noch kommen werden, und derer, die bereits von uns gegangen sind, tritt gemeinsam in Dialog mit dem Schatten der COVID-19-Pandemie, die unsere Welt dauerhaft verändert hat. Wenn wir die gegenwärtige Krise im Gesundheitssystem der Tuberkulose-Pandemie gegenüberstellen, können wir verstehen, wie sich der Atem durch Geschichten und Geografien hindurchbewegt, um Fragen zu stellen und Solidarität zu schaffen.“ 
— Pallavi Paul, 2023

Gefangen zwischen Licht und Dunkelheit, ist es das Kino selbst, das Paul in ihren frühesten wie auch in ihren jüngsten Arbeiten neu interpretiert. In dem Kurzfilm Nayi Kheti / New Harvest (2013) dient der Gedichtband After Lorca (1957) des US-amerikanischen Schriftstellers Jack Spicer als Ausgangspunkt, um das Nachleben eines Dokuments zu überdenken. Als spielerische Reflexion über Vorstellungen von Autor*innenschaft und Wahrheit erfindet Spicer fiktive Gespräche mit Lorca – fast zwanzig Jahre nach dessen Tod – und stellt dabei die Frage: “Was passiert mit einem Gedicht, nachdem es vorbei ist?” Pallavi Paul imaginiert in Nayi Kheti / New Harvest Lorcas Antwort aus dem Jenseits und verbindet sie filmisch mit den Schriften des indischen Dichters und Aktivisten Ramashankar Yadav (auch bekannt als Vidrohi), dessen Werk hauptsächlich mündlich überliefert wurde. So begegnet sie der Frage nach dem (Post-)Dokumentarischen noch einmal aus einer erweiterten Perspektive.

Pallavi Pauls neuer essayistischer Experimentalfilm Twilight’s Envelope / Und in der Dämmerung Hülle (2024) nähert sich den Heilanstalten Hohenlychen, einem ehemaligen Tuberkulose-Sanatorium, durch neue Aufnahmen sowie Archivmaterial und lässt dabei narrative Stränge innerhalb des Dokumentarischen miteinander verschmelzen. Diese jüngste ihrer filmischen Forschungen produzierte Paul als Artist in Residence am Gropius Bau und Research Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Strukturiert durch die Stimme des Fabrikarbeiters Moritz Theodor William Bromme, einem ehemaligen Tuberkulosepatienten, der in Lebensgeschichte eines modernen Fabrikarbeiters (1905) den Alltag in einem Sanatorium beschrieb, wendet sich der Film Perspektiven zu, die normalerweise an den Rand der Geschichtsschreibung gedrängt werden: „15 Jahre Fabrikarbeit, das heißt 15 Jahre Staub schlucken“, notierte Bromme. „Es war ja kein Wunder, dass der gefürchtete Bazillus auch bei mir, der ich von Geburt an schwächlich war, das Zerstörungswerk begonnen hatte.“ Für ihren filmischen Versuch wählt Paul einen poetischen und archäologischen Ansatz, um der Architektur mithilfe der Lebensgeschichte des erkrankten Arbeiters zu begegnen. Gerahmt von den tief berührenden Schilderungen des Patienten, begleitet eine Klangkulisse aus Schlafliedern die Betrachtenden durch die massiven Ruinen der Heilanstalten Hohenlychen, die von psychologischen, körperlichen und geistigen Rückständen durchzogen sind. Der inzwischen von Staub, Wildwuchs und tierischem Leben bedeckte Gebäudekomplex trägt noch immer die schmerzlichen Spuren seiner früheren Bestimmung, die über die Behandlung von Tuberkulosepatienten im frühen 20. Jahrhundert hinausging. Nachdem die Heilstätte im Ersten Weltkrieg in ein Lazarett und während des Nationalsozialismus in ein Sportkrankenhaus umgewandelt worden war, veranlassten und begingen die verantwortlichen Ärzte und das medizinische Personal ab 1942 brutale Versuche an Menschen, die in Ravensbrück – dem damals größten Frauenkonzentrationslager in Deutschland – inhaftiert waren. Der Film verweist auf größere Zusammenhänge im Kontext von Industriegesellschaften, staatlicher Gewalt, Arbeit und Gesundheit sowie auf Fragen der Staatenbildung.

Der Druck, den die Ansteckung in der Vergangenheit auf den Atem auslöste, dient als Zugang zur Gegenwart, in der dieser erneut zu einem umkämpften Themenkomplex geworden ist. Vor dem Hintergrund der COVID-19-Pandemie begleitet der experimentelle Dokumentarfilm How Love Moves (2023) zwei Jahre lang den Totengräber Shamim Khan und seine Kollegen bei ihrer täglichen Arbeit auf dem Delhi Gate Cemetery, dem größten islamischen Friedhof der indischen Hauptstadt. In der Metropole, die stark von der tödlichen Krankheit betroffen war, ist Shamim nicht nur zum Begleiter derjenigen geworden, die vom Staat, der medizinischen Infrastruktur und sogar von ihren Familien ausgestoßen werden, sondern auch zum Wächter der brutalen und zugleich zärtlichen Liebe zwischen der Erde und den Verstorbenen. How Love Moves enthüllt den Zyklus des Atems und seine Verbindungen zum Boden als Träger von Hoffnung, Trauer und des Lebens selbst. Parallel dazu entfaltet sich der Film, in Anlehnung an Shamims Verständnis der Grabstätte als Raum eines vielfältigen Nebeneinanders, als Ort der Ruhe und des Exils; als Schmelztiegel der Erinnerung und langsamer Verbrennungsprozesse der Zeit; als Manifestierung des Anspruchs auf Würde und Vergessen; als eine Kette der Präsenz und eine Erinnerung an die Abwesenheit.

Als filmische Gliederung entfaltet Pallavi Paul die Zeitspanne eines Atems über fünf Kapitel, die nach den islamischen Gebetszeiten benannt sind – فجر (Fadschr, Morgendämmerung), ظُهْر (Zuhr, Mittag),  العصر (Asr, später Nachmittag), مَغْرِب (Maghrib, Sonnenuntergang) und عائشة (Ischā, Nacht) – und die gleichzeitig eine Unterbrechung der Verbindung zwischen dem Gebet und dem Kreislauf des Lebens markieren. Archivmaterial, darunter Videoaufnahmen von politischen Reden, dysfunktionalen Krankenhäusern und harten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus, unterbricht den Fluss der filmischen Zeit. Fiebrige Szenen verweisen auf die Atemlosigkeit und Angst, die durch die Pandemie eskalierten. Während solche Momente die Schrecken der gesundheitlichen und politischen Notlage eindringlich zeigen, erlaubt How Love Moves auch ein erholsames Einatmen der Welt – durch intime Gespräche, Traumlandschaften und jenseitige Existenzformen, die in die lokale und spirituelle Textur des Lebens auf dem Friedhof eingewoben sind.
 
„Indem wir die Grabwächter mit den Verstorbenen in Verbindung bringen, können wir den Atem und die Liebe vielleicht als das begreifen, was sie sind – ein transformatives Versprechen, das die Welt in jedem Moment neu erschafft.“
— Pallavi Paul

In seiner doppelten Eigenschaft als Lebensraum und Material wird der Boden in How Love Moves sowohl zum Zeugen ökologischer Katastrophen und des Gesundheitszustandes unseres Planeten wie auch zum elementaren Bestandteil für Heilung und spirituelle Verbindung. In der Installation Slumber (2023) collagiert Pallavi Paul gefundenes filmisches Material zu kurzen Liebesgeschichten, in denen Bilder aus Bereichen der Poesie, der industriellen Arbeit, der Geologie und dem Mehr-als-Menschlichen miteinander verwoben werden. Hier werden Besucher*innen eingeladen, ungewöhnliche Perspektiven auf Zeit, Liebe und Örtlichkeit einzunehmen, indem sie sich “unter die Erde” begeben, um auf neue Weise über Zugehörigkeit und Vergänglichkeit nachzudenken.

Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle der COVID-19-Pandemie, als die Infektionszahlen einen historischen Höchststand erreichten und in Nordindien ein Mangel an klinischem Sauerstoff herrschte, kursierten in den Nachrichten und der Berichterstattung immerfort Bilder von Leichen in verschlossenen Säcken. Die Leichensäcke wurden so zur schmerzhaften Erinnerung daran, wie der Tod in Zeiten von Krisen und Ansteckung anonymisiert wird. Um die Würde und Intimität von Tod und Trauer zurückzugewinnen, wurde jeder Leichensack in der Installation Trousseau (2023) von einer Gruppe von Frauen aus Neu-Delhi mit Motiven im Stil von Brautkleidern bestickt, die mit Fruchtbarkeit assoziiert werden. Durch die Arbeit, die Gebete und das Garn der Frauen werden Erinnerungen an die verlorenen Leben in die ansonsten sterilen medizinischen Massenprodukte eingewoben. Die Serie Everything is Still Damp (2024) zeigt ebenfalls florale Motive, die dem Fortbestehen und Verblassen von Erinnerungen gewidmet sind. Die Siebdrucke auf Schleifpapier zeigen Rosen und die Muster eines Chadar – jenes Stoffes, der in der islamischen Tradition als Symbol des Respekts und der Fürsorge für die Verstorbenen auf deren Gräber gelegt wird. Durch den manuellen Herstellungsprozess der Drucke auf der rauen Oberfläche entstehen Variationen der Motive, die auf das Auflösen, die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit von Erinnerung hinweisen.
 
Die Installation Salt Moon (2023), die sich am Eingang und Ausgang der Ausstellung befindet, imaginiert den Friedhof als Tor zur Trauer, aber auch zur Ruhe und Erinnerung. Grabähnliche Skulpturen werden hier zu Projektionsflächen von Szenen aus der Tierwelt, die als Abgesandte das vielfältige mehr-als-menschliche Leben auf dem Delhi Gate Cemetery nach Berlin bringen. Umgeben von einer immersiven sphärischen Klanglandschaft, die sanft in die angrenzenden Räume überschwappt, setzt die Installation einen Impuls, die Liebe zu und von den Anwesenden zu würdigen.

How Love Moves wird von dem Veranstaltungsprogramm SixDays of Love begleitet, einer Reihe von filmischen Lesungen, Performances, Gesprächsformaten und klanglichen Interventionen, die zwischen Frühjahr und Sommer 2024 in verschiedenen Räumen des Gropius Bau stattfinden.

Kuratiert von Natasha Ginwala mit Sonja Borstner