Konzert | Berliner Orchester

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin / Ingo Metzmacher

Jonchaies sind Binsen, das Dickicht hoher Gräser, die am Übergang der Elemente, an der Grenze zwischen Wasser und Land gedeihen. Sieht man sie als Masse, erscheinen alle gleich. Betrachtet man sie einzeln, wirkt jeder Halm und jedes Büschel anders. Dem Winddruck beugen sie sich synchron, nur individualisierter Gewalt und stürmischen Verdrehungen sind sie nicht gewachsen. Binsen können als Muster musikalischer Strukturen, der Syn- und Antithesen von Allem und Einem dienen. Sie geben ein Bild kollektivierten Menschseins. Bis Jonchaies herrschten in Xenakis’ Musik Massenstrukturen vor. Im Orchesterstück von 1977 gewinnen melodische Konturen, die Zeichen der Individualisierung im Klang, höhere Bedeutung.

Arnold Böcklin meinte, sein Bild Die Toteninsel müsse so still wirken, dass man aufschrecke, wenn einer anklopft. Reger lässt die Kontemplation durch eine konzentrierte, nach innen gerichtete Musik zur Klanggestalt werden.

Beide Werke führen in diesem Programm auf verschiedenen Wegen zum Hauptstück, Hanns Eislers Deutscher Sinfonie. Sie hat die Größe Brucknerscher Orchesterwerke, ohne ihre Monumentalität anzustreben, sie hat die Vielgestaltigkeit von Schostakowitschs Vierzehnter, besteht, wie bei Gustav Mahler, aus Instrumentalsätzen, Gesangsstücken und integrierten Kantaten. Sie begleitet die historischen Ereignisse ihrer Entstehungszeit (1935 bis 1947 mit einem Epilog von 1957), und projiziert sie vor die Folie der Menschheitsgeschichte, sie ist Symphonie im nachdrücklichen Sinn der klassischen Tradition als universale musikalische Gattung, eine Erinnerung an das Erbe Beethovens, der seine Symphonien als »Volksreden an die Menschheit« (Adorno) entwarf. In der Auseinandersetzung zwischen Mensch und Macht ergreift sie die Partei der Erniedrigten, die zur Konformität der Masse gezwungen werden. Was Eisler zu sagen hat, delegiert er nicht allein an die vertonten Texte, wie wichtig sie auch für das Ganze sind. Die Zentralstellen der Reflexion liegen in den Stücken ohne Worte, vor allem im Allegro, das vor dem nachkomponierten Epilog zunächst als Schlusssatz gedacht war. Die verspätete Nachschrift protokolliert das Schicksal des Werkes: In der Zeit, auf die es antwortet, wurde es nicht aufgeführt. Heute wirkt es wie ein Brennspiegel der Geschichte.

Konzertprogramm

Iannis Xenakis [1922–2001]
Jonchaies
für großes Orchester [1977]

Max Reger [1873–1916]
Die Toteninsel
aus Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin op. 128
für Orchester [1913]

Hanns Eisler [1898–1962]
Deutsche Sinfonie
für Soli, Sprechstimmen, Chor und Orchester op. 50 [1935–58]

Besetzung

Isabelle VoßkühlerSopran
Christa MayerMezzosopran
Matthias GoerneBariton
Thorsten GrümbelBass
Sascha Glintenkamp, Axel ScheidigSprecher

Rundfunkchor Berlin
Simon HalseyEinstudierung

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Ingo MetzmacherLeitung

Eine Veranstaltung des DSO Berlin in Kooperation mit dem musikfest berlin | Berliner Festspiele