Konzert | Berliner Orchester
Thomas Tallis begann als Organist in Dover und starb als hochgeehrter Gentleman der Königlichen Kapelle in London mit eigenem Druckprivileg für seine Werke. Er erlebte als Kirchenmusiker den Wechsel vom katholischen zum anglikanischen Ritus in England. Die Motette Spem in alium für vierzig Stimmen schrieb Tallis als Sechzigjähriger. Offenbar komponierte er sogar Raumwirkungen und Rotationen ein: Wahrscheinlich ist Spem in alium für den Landsitz des vierten Duke of Norfolk, Thomas Howard, geschrieben worden. In der oktogonalen Banketthalle des Anwesens konnten die Sänger von vier Balkonen ihre Zuschauer kreisförmig mit Klang umgeben. Erst Jahrzehnte später, mit Berlioz, Liszt, Wagner und Mahler, sollte die Instrumentalmusik in der Lage sein, eine vergleichbar ausdifferenzierte Klangballung zu erreichen.
Antonio Lotti machte sich als Opernkomponist einen Namen, später konzentrierte er sich auf Sakralwerke und wirkte an San Marco in Venedig. Noch dreißig Jahre nach Lottis Tod, 1770, konnte der britische Musikschriftsteller Charles Burney Musik von Lotti in Venedig hören. Und war verblüfft, wie wenig barock die Klangwelt Lottis wirkte, wie sehr sie dem Vorbild der klassischen Vokalpolyphonie verbunden war, »feyerlich und majestätisch; sie bestund aus Fugen und Nachahmungen, im Style unsrer besten alten Kirchen-Stücke«.
Die Tradition der europäischen Vokalpolyphonie ist eine wesentliche Bedeutungsebene in Gustav Mahlers Achter Sinfonie. Als »das Größte, was ich bis jetzt gemacht habe«, bezeichnete er sie. »Sinfonie der Tausend« wurde das Werk reißerisch vom Veranstalter vor der Uraufführung genannt. Doch der gigantische Orchesterapparat hat vor allem die Funktion, einen auskomponierten Resonanzraum für die Einsätze des großen gemischten Chores des Knabenchors und der Vokalsoli zu bieten. »Können Sie sich eine Symphonie vorstellen, die von Anfang bis zu Ende durchgesungen wird?«, fragte Mahler in einem Brief. Er konnte es. Und verband dafür einen mittelalterlichen Pfingsthymnus mit dem Chorus mysticus aus Goethes Faust II. Die menschliche Stimme wird in der Achten zum Orchesterinstrument, eingesetzt in vielfachen Schattierungen, im zarten Solo, im massiven akkordischen Block, in verästelten Fugen und im expressiven Ensemble. Manche finden die Achte zu affirmativ, sie vermissen die Brüche. Aber wenn diese monumentale Chorsymphonie, diese enorme Kraftanstrengung eines bereits todkranken Künstlers kurz vor der alle Gewissheiten aushebelnden Zäsur des Ersten Weltkriegs, in das Goethe-Wort »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« mündet, ist das nicht Hinweis genug auf Skepsis und Zweifel?
Antonio Lotti [1667–1740]
Cruzifixus c-Moll für 8-stimmigen Chor a cappella
Thomas Tallis [1505–1585]
Spem in alium für acht 5-stimmige Chöre a cappella [um 1575]
Gustav Mahler [1860–1911]
Symphonie Nr. 8 Es-Dur [1906/07]
1. Teil: Hymnus Veni creator spiritus
2. Teil: Schluss-Szene aus Goethes Faust II
Erika Sunnegardh, Susan Bullock, Anna Prohaska – Sopran 1 – 3
Karen Cargill, Nathalie Stutzmann – Alt 1 – 2
Johan Botha – Tenor
David Wilson-Johnson – Bariton
John Relyea – Bass
Rundfunkchor Berlin
Simon Halsey – Einstudierung
MDR Rundfunkchor Leipzig
Howard Arman – Einstudierung
Staats- und Domchor Berlin
Kai-Uwe Jirka – Einstudierung
Berliner Philharmoniker
Sir Simon Rattle – Leitung
Eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker in Kooperation mit dem musikfest berlin | Berliner Festspiele