Konzert | Klavierrecital I
Klavierrecital I
Franz Liszt besucht im Winter 1882/83 für mehrere Wochen seinen Schwiegersohn, Freund und künstlerischen Weggefährten Richard Wagner in Venedig. Wagner ist hier zur Erholung nachdem er in Bayreuth besorgniserregende Herzanfälle erlitten hat. Während des Besuchs sprechen sie über Wagners Plan, Symphonien in einem Satz zu komponieren. In Venedig schreibt Liszt die Klavierkomposition La lugubre gondola. »Wie aus Vorahnung« sagt Liszt später, habe er dieses Klavierstück über eine schwarz verhängte Gondel in einem Leichenzug geschrieben. Auf diese Weise wird wenige Wochen später Wagners Leichnam an den Bahnhof von Venedig für die Überführung transportiert.
La lugubre gondola ist ein einsätziges Klavierstück, dessen kurzes Initialmotiv sich im Stück entfaltet. »(…) einen melodischen Faden spinnen, bis er ausgesponnen ist«, das wollte Wagner in seinen einsätzigen Sinfonien, zu denen es nicht mehr kommen sollte. In den dichten, zumeist verdunkelten Stimmungsbildern seiner späten Klavierstücke hat Franz Liszt diese Konzentration auf einen musikalischen Gedanken jedoch bereits radikaler ausgeführt: In Nuages gris (»Trübe Wolken«), Jahre vor Wagners Tod entstanden, und in Unstern! – Sinistre sind es Kurzmotive, Intervallkonstellationen oder akkordische Konfigurationen, die zum Gegenstand musikalischer Reflexion werden.
Das dialektische Prinzip der tradierten Sonatenform hat Liszt letztlich nie interessiert. In seiner h-Moll-Sonate, über deren schillernde Formprinzipien bis heute Kontroversen geführt werden, lassen sich die einzelnen Passagen mehrdeutig im Sinne einer Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit verstehen, verklammert durch ein wiederkehrendes Skalenmotiv, befeuert von Improvisation und Metamorphose. Von solch individuellen Lösungen war Richard Wagner in seiner zeitgleich entstandenen einsätzigen Klaviersonate As-Dur noch weit entfernt.
An der Schwelle zur Moderne wird später Alexander Skrjabin in seiner Klaviersonate »Schwarze Messe« mystisch aufgeladene Programmmusik schreiben, deren struktureller Zusammenhalt von einem markanten Leitakkord gewährleistet ist. Das traditionelle Formschema wird endgültig ausgehebelt. Alban Berg erfüllt in seiner während des Unterrichts bei Arnold Schönberg entstandenen Sonate für Klavier op. 1 zwar formal die Gattungstradition, doch führt er sie harmonisch zu neuen Ufern, ein Weg, den sowohl der Schüler als auch der Lehrer konsequent fortschreiten werden.
Mit dem französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard konnte für dieses Konzert einer der vielseitigsten Pianisten der heutigen Zeit gewonnen werden, der sowohl bei Liszt als auch bei Berg durch künstlerische Souveränität überzeugt.
Franz Liszt [1811–1886]
La lugubre gondola Nr. 2 [1885]
Richard Wagner [1813–1883]
Sonate für Klavier As-Dur [1853]
»Für das Album von Frau M.W.«
Franz Liszt
Nuages gris [1881]
Alban Berg [1885–1935]
Sonate für Klavier op. 1 [1907/8, rev. 1920]
Franz Liszt
Unstern! – Sinistre [undatiert]
Alexander Skrjabin [1872–1915]
Sonate für Klavier Nr. 9 op. 68 [1912/13]
»Schwarze Messe«
Franz Liszt
Sonate für Klavier h-Moll [1852/53]
Pierre-Laurent Aimard – Klavier