
In mürrischer Stimmung kam Ludwig van Beethoven an einem Vormittag des Jahres 1822 einer lange vorgetragenen Bitte seines ehemaligen Schülers Carl Czerny nach. Er empfing einen elfjährigen Knaben, der seinerseits wiederum Unterricht bei Czerny hatte: Franz Liszt (1811–1886). Noch über 50 Jahre später war Liszt diese Begegnung mit Beethoven in lebendiger Erinnerung. Je länger der Junge spielte, umso mehr hellte sich die Miene Beethovens auf. Schließlich gab der Komponist ihm einen Kuss auf die Stirn und entließ ihn mit den Worten: „Geh! Du bist ein Glücklicher! Denn du wirst viele andere Menschen beglücken und erfreuen! Es gibt nichts Besseres, Schöneres!“ Beethovens Musik sollte für Liszt einen lebenslangen Fixpunkt bilden, und er selbst einer ihrer wichtigsten Interpreten werden.
Geboren wurde Liszt 1811 als Kind deutschsprachiger Eltern im damals ungarischen, heute österreichischen Raiding. Ersten Musikunterricht erhielt er vom Vater, der schon bald Konzertreisen für seinen Sohn organisierte. Es folgten musikalische Studien in Wien und Paris, wo sich Liszt 1827 nach dem Tod des Vaters niederließ. In den Salons der Metropole kam Liszt mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten in Kontakt. Besonders folgenreich waren die Begegnung mit Hector Berlioz, der Liszts Interesse an einer Verbindung der Musik mit den Schwesterkünsten stimulierte, und das Erlebnis Niccolò Paganinis. Fasziniert war Liszt nicht nur von der schieren Brillanz von Paganinis Spiel, sondern auch von den ungeahnten expressiven Möglichkeiten, die dessen neuartige Virtuosität eröffnete. Derart angeregt unternahm Liszt jetzt, obwohl er schon ein fertiger Pianist war, intensive technische Studien. Es gelang ihm, seine Spieltechnik weit über das Maß des früher Vorstellbaren hinaus zu steigern. Am Ende seines Weges war das Klavierspiel auf ein neues Fundament gestellt und aus einem achtbaren Klavierspieler ein europäisches Ereignis geworden. Die 1840er Jahre wurden zu einem Jahrzehnt beispielloser Erfolge für Liszt, der kreuz und quer durch Europa reiste, um Konzerte zu geben. Zahlreiche Klavierwerke entstanden in dieser Zeit in ersten Fassungen. Dabei war Liszts Art des Konzertierens etwas revolutionär Neues. Üblich waren gemischte Programme mit allen möglichen Besetzungen, Liszt aber bestritt seine Konzerte allein mit Musik für Klavier und entwickelte so den modernen Klavierabend.
1847 lernte Liszt in Kiew die Fürstin zu Sayn-Wittgenstein kennen. Die unglücklich Verheiratete verließ ihren Mann, um mit Liszt zusammenzuleben, der eine ähnlich unkonventionelle Beziehung bereits in den 1830er Jahren mit der Gräfin Marie d‘Agoult geführt hatte. Im folgenden Sommer ließ sich das Paar zur Verwunderung vieler Zeitgenossen in einem verschlafenen deutschen Provinznest mit großer Vergangenheit nieder, in Weimar, und es gelang Liszt, den seit Goethes Tod verwaisten „Musenhort“ wiederzubeleben. Für mehr als ein Jahrzehnt war Weimar ein Brennpunkt der Musikwelt, der Besucher von weither anzog. Zahlreiche bedeutende Werke brachte Liszt hier zur Uraufführung, wobei er sich auch in der ungewohnten Rolle des Dirigenten zu einem der prägenden Künstler seiner Zeit entwickelte. Liszt setzte sich besonders für die Werke von Berlioz und Wagner ein, mit dem er befreundet war und den er mit seiner progressiven Harmonik beeinflusst hatte. Als Wagner später ein Verhältnis mit Liszts Tochter Cosima begann, brach Liszt den Kontakt zu ihm ab, später versöhnten sie sich aber wieder. Die Weimarer Jahre wurden zu den produktivsten in Liszts Leben. Hohen Anteil daran hatte die Fürstin, die ihn in jeder Weise unterstützte, die aber auch, um ihre eigene Formulierung zu gebrauchen, dem mangelnden „Sitzfleisch“ Liszts entgegenwirkte. Vielen Klavierwerken gab Liszt hier nun endlich ihre definitive Gestalt und schuf neue wie die h-Moll-Sonate. Zudem wandte er sich mit Entschiedenheit der Orchestermusik zu, zu der er hier gleichfalls einen bedeutenden eigenen Teil beitrug.
Trotz Liszts europaweiten Ruhmes hatte sich das Weimarer Publikum mit dem weltmännischen Künstler nie wirklich anfreunden können. Theaterintrigen führten dazu, dass Liszt im Dezember 1858 sein Kapellmeisteramt niederlegte. 1861 nahm Liszt dann seinen Wohnsitz in Rom. Als gläubiger Katholik, der sich immer zur Religion hingezogen gefühlt hatte, empfing er 1865 die Weihe als Weltgeistlicher. In seinem Schaffen bildeten nun geistliche Werke einen neuen Schwerpunkt, auch interessierte sich Liszt stark für die Kirchenmusik vergangener Epochen. Besondere Verehrung wurde dem Komponisten in seiner Heimat Ungarn entgegengebracht. 1875 wurde er zum Präsidenten der neu errichteten Musikakademie in Budapest berufen. Von den 1870er Jahren an lebte Liszt abwechselnd in Rom, Weimar und Budapest, unterrichtete viel, dirigierte, war oft auf Reisen und nahm regen Anteil am Musikleben. In seinen letzten Lebensjahren nahm sein Schaffen noch einmal eine Wendung. Es entstanden asketisch karge, in sich kreisende Kompositionen, in denen er seiner Zeit weit vorausgreift und die tonale Harmonik auf weiten Strecken außer Kraft gesetzt ist. Liszt starb am 31. Juli 1886 während eines Besuchs der Bayreuther Festspiele.
Stand: September 2011