„Ich freue mich sehr, unser Herbstprogramm mit Ligia Lewis zu eröffnen. Sie ist eine der interessantesten Stimmen an der Schnittstelle zwischen Performance, Tanz und Bildender Kunst und lebt und arbeitet seit über einem Jahrzehnt in Deutschland. Indem wir experimentelle zeitgenössische Positionen neben etablierten Künstler*innen wie Diane Arbus zeigen, hoffen wir, ein diverses Publikum anzusprechen und den Dialog zwischen Kunstgeschichte und zeitgenössischer Kunst zu beleben.“
— Jenny Schlenzka, Direktorin Gropius Bau
In den Filmen und Performances von Ligia Lewis prallen Humor und Tragik aufeinander. Spielerisch verwebt die Künstlerin und Choreografin Erzählungen über Race, Gender, Gewalt und Widerstand und zeigt dabei, wie sehr die Vergangenheit unsere Gegenwart noch immer bestimmt und belastet.
In ihrer Praxis will Lewis eine Vorstellung davon vermitteln, wie es ist, gesehen – oder eben nicht gesehen – und bezeugt zu werden. Choreografie bedeutet für sie, dass sich Ideen durch Körper hindurch und über sie hinweg manifestieren. Sie beschreibt dies als einen politischen Akt, als ein Anschreiben gegen rassistische Praxen des Unsichtbarmachens und Verzerrens.
„In meinen Performances spielen das visuelle Design und die eigens komponierte Musik eine zentrale Rolle. Sie erlauben mir, eine körperliche Erzählform zu entwickeln, die eine dynamische Dramaturgie entfaltet – eine, die sich von der Fetischisierung des Körpers und der Obsession mit neuen Bewegungsformen löst. Ich strebe in meiner Arbeit immer etwas Bestimmtes an, selbst wenn ich experimentiere.“
— Ligia Lewis
Lewis’ Arbeiten brechen mit der Vorstellung einer linearen Geschichte und richten stattdessen den Blick auf die endlosen Schleifen rassistischer Gewalt. Ihre Filme und Performances zeigen, wie sich Geschichte durch gelebte Erfahrung über Generationen hinweg in Körper einschreibt. Mittels Stimme, Text und ausdrucksstarker Mimik hinterfragen Lewis‘ vielschichtige Arbeiten, wie wir einander sehen. Neben ihrer körperbezogenen Praxis bildet Lewis’ theoretische und politische Neugier die Grundlage ihrer Arbeit und ihres Denkens. Das Konzept des „Studierens“ versteht sie als Nachdenken, das mit aktivem Handeln einhergeht und im engen Austausch mit einer Vielzahl von Stimmen stattfindet.
Die neu entwickelte Arbeit Wayward Chant (2025) erkundet die Schnittstellen von Klang und Bewegung, während innerhalb einer flüchtig skizzierten Choreografie Figuren erscheinen und wieder verschwinden. Lewis nutzt dabei auf spielerische Weise die Architektur des Lichthofs, um mit Schatten visuelle Effekte zu erzeugen. Indem sie die Aufmerksamkeit darauf richtet, was im Dunkeln bleibt, bietet sie eine Gegenbewegung zu vertrauten Repräsentationsweisen an. An mehreren Tagen der Woche wird die Arbeit performativ aktiviert: Die Choreografie sich bewegender, singender Körper wirkt wie eine verlangsamte, gesummte Hymne. Im Lauf der Ausstellung entwickelt sich Wayward Chant fast beiläufig in fortwährenden Wiederholungen und verdichtet sich am 28. und 29. November zu einer abendfüllenden Performance.
In A Plot, A Scandal (2023) werden eine Reihe sehr unterschiedlicher Plots miteinander verwoben – als eine Form des Widerstands und der verkörperten Erinnerung. Der Film geht vom Philosophen John Locke aus, der im 17. Jahrhundert Leben, Freiheit und Eigentum zum Naturrecht des (weißen) Menschen erklärte. Diese Doktrin floss später in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ein. Inzwischen ist bekannt, dass Locke durch seine Investitionen in die Royal African Company vom Handel mit versklavten Menschen profitierte. Als Reaktion darauf wendet sich Lewis einer Reihe von Komplotten des Widerstands in der Karibik zu.
Water Will (in Melody) (2018/2025) ist inspiriert von dem Märchen Das eigensinnige Kind der Gebrüder Grimm aus dem 19. Jahrhundert. Es ist die Geschichte eines dickköpfigen Kindes, dessen Ungehorsam zu seinem Tod und schließlich zu seiner gespenstischen Wiederkehr führt. Aufbauend auf den Gedanken der feministischen Theoretikerin Sara Ahmed zeigt Lewis, wie Rassifizierung die Fähigkeit zu Handeln einschränkt und „Eigenwilligkeit“ – insbesondere für Schwarze weiblich gelesene Personen – zu einem leeren Wort werden lässt. Der Ausstellungsraum ist von einer Klangpartitur aus freien, eigenwilligen Stimmen durchsetzt, die eine Klanglandschaft des Horrors erzeugen. Das Sprechen bricht zusammen, taumelt, gurgelt, wird verschluckt und vermischt mit einer abgehackten Remix-Version von Sergei Rachmaninows Sinfonie Toteninsel.
Die Live-Installation study now steady (2023) verwandelt den Ausstellungsraum in einen Ort für fortlaufende choreografische Studien. Von Donnerstag bis Sonntag zeigt eine Gruppe von Tänzer*innen Lewis‘ choreografische Partituren als kontinuierlichen Prozess. Diesen Partituren liegen zahlreichen Film- und Bühnenarbeiten der Künstlerin zugrunde. study now steady macht die Prozesse sichtbar, die Lewis’ künstlerische Praxis prägen, und versteht Leben als ein fortlaufendes Einstudieren. In einem mit dem Publikum geteilten Raum entfalten sich diese Studien durch das Zwischenspiel von Körpern und der Architektur, die sie umgibt.
Das Video deader than dead (2020) entstand aus einer Recherche zu performativen Konzepten wie „deadpan“ oder „corpsing“ und beschäftigt sich mit Schwarzsein als politischer Position und anti-Schwarzem Rassismus als struktureller Bedingung. Im Film liegen die Performer*innen immer wieder ausgestreckt wie tot am Boden und verweigern sich somit jeder narrativen Entwicklung. Ihr Aufeinandertreffen oszilliert zwischen Gesten der Fürsorge und der Gewalt. Sie stürzen zu Boden und ihre Körper werden von der Bühne getragen oder gezogen. Der Essay Corpsing; Or, The Matter of Black Life des Philosophen David Marriott aus dem Jahr 2016 war Lewis‘ Inspiration, um in deader than dead über Zeit nachzudenken, über die Unausweichlichkeit des Todes und die unverhältnismäßig hohe Leid das Schwarze Menschen als Folge von Rassismus erfahren.
Für I’M NOT HERE FORRRRR… haben Lewis und die Ausstellungskuratorin Nora-Swantje Almes zusammen mit den Kurator*innen und Autor*innen Julia Grosse und Magnus Elias Rosengarten eine Auswahl an Texten zusammengestellt. Diese Auswahl von Büchern, die frei über die Räume der Ausstellung verteilt sind, laden das Publikum dazu ein, sich intensiv mit den Gedanken auseinanderzusetzen, die Lewis‘ Arbeit prägen.
Ligia Lewis: I’M NOT HERE FORRRRR… wurde kuratiert von Nora-Swantje Almes, Kuratorin Live-Programm und Vermittlung, zusammen mit Alexandra Philippovskaya, Assistenzkuratorin Live-Programm und Vermittlung.
Ausstellungsmanagement: Nora Bergbreiter und Elisabeth Pannrucker, Projektassistenzen
Ligia Lewis lebt seit 2013 in Berlin und hat eine vielschichtige choreografische Praxis entwickelt, die Performance, Live-Installation und Film miteinander verbindet. Sie ist Künstlerin, Choreografin und Regisseurin und ihre Arbeiten sind international auf Bühnen, in Galerien und Museen zu sehen. Im Herbst 2023 eröffnete sie ihre erste Einzelausstellung study now steady im Center for Arts, Research and Alliances in New York City. Eine Werkschau ihrer Arbeiten mit dem Titel Complaint, A Lyric wurde im gleichen Jahr im HAU Hebbel am Ufer präsentiert. 2024 war sie teilnehmende Künstlerin bei der Whitney Biennial. 2025 arbeitete sie mit Cullberg zusammen, einer der renommiertesten Tanzkompanien Schwedens. Die daraus entstandene Arbeit Some Thing Folk feierte beim Berliner Festival Tanz im August Premiere.
Ligia Lewis erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Theaterpreis DER FAUST (2023) für A Plot, A Scandal, die Tabori Auszeichnung (2021), den Foundation for Contemporary Arts Grant (2018) und den Bessie Award (2017).
Mit ihrer umfangreichen interdisziplinären Praxis zählt Ligia Lewis zu den zentralen Protagonist*innen einer Neuausrichtung von Performance im Kontext Bildender Kunst und ist Artist in Focus der Berliner Festspiele 2025.