Das vielleicht schönste Zitat über Sofia Gubaidulina stammt vom Dirigenten Simon Rattle: Sie sei wie ein „fliegender Einsiedler“, denn sie befinde sich immer „auf einer Umlaufbahn und besucht nur gelegentlich die terra firma. Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.“
Geboren wurde Sofia Gubaidulina 1931 in Tschistopol in der autonomen russischen Republik Tatarstan. Sie studierte in Kasan und am Moskauer Konservatorium und ist seit 1963 als freischaffende Komponistin tätig. In der Sowjetunion fanden ihre Werke jedoch kaum Beachtung und wurden zeitweise mit einem Aufführungsverbot belegt – sie entsprachen nicht den Vorgaben des Sozialistischen Realismus, der jede Form von Abstraktion ablehnte. Ihren Lebensunterhalt verdiente Gubaidulina in dieser Zeit unter anderem mit Filmmusik.
Es war Dmitri Schostakowitsch, der sie ermutigte, auf ihrem „Irrweg“ weiterzugehen. Politischer Aktivismus stand für sie dabei allerdings nicht im Vordergrund. „Es war vielmehr eine ideologische Angelegenheit. Es ging um die Frage der Freiheit,“ so Gubaidulina. „Ohne die hätte ich als Komponistin nicht weiterleben, ohne eine freie Seele nicht schreiben können. Da gab es nur ein Entweder-oder. Aber eine freie Tätigkeit war in diesem Regime nicht möglich. Ich war nicht gefährlich, das Problem war nicht meine Musik, die war eigentlich egal. Aber der Wunsch nach Freiheit lag in meinen Augen.“
Längst muss Gubaidulina nicht mehr um Anerkennung kämpfen. Ihre Musik wird von Dirigenten wie Christian Thielemann und eben Simon Rattle geschätzt und von Orchestern wie den Berliner Philharmonikern und dem Gewandhausorchester Leipzig aufgeführt. Das Online-Magazin Bachtrack hat sie gerade erst zur meistgespielten Komponistin der Welt gekürt. Sie wurde mit Preisen wie dem schwedischen Polar Music Prize und dem japanischen Praemium Imperiale ausgezeichnet; in Deutschland erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Zudem wurde sie mit dem Goldenen Löwen der Musik-Biennale Venedig und der Goldmedaille der Royal Philharmonic Society London ausgezeichnet.
Fast immer kreisen Gubaidulinas Werke um ihr zentrales Lebensthema, ihren Glauben. „Ich kann mir keine Kunst vorstellen, die sich nicht zum Himmel, zum Vollkommenen, zum Absoluten wendet,“ hat sie einmal ihr musikalisches Credo beschrieben. 1970 ließ sie sich russisch-orthodox taufen. Ihre Verbundenheit mit dem göttlichen Kosmos prägt ihr gesamtes Schaffen und offenbart sich in zahlreichen religiös inspirierten Werktiteln. So bereits bei ihrem Ersten Violinkonzert Offertorium, das die damals 50-Jährige 1981 für Gidon Kremer schrieb und das für sie den internationalen Durchbruch bedeutete.
Gubaidulinas besondere Vorliebe für düstere, tiefe Klangfarben zeigt sich etwa bei ihrem Konzert für Fagott und tiefe Streicher (1975), ebenso bei dem Werk Am Rande des Abgrunds (2003) für sieben Celli und zwei mit Wasser gefüllte Aquaphone, deren Klang an Walgesänge erinnert. Zugleich steht dieses Stück exemplarisch für Gubaidulinas Interesse an einem Instrumentarium, das über die traditionelle Orchesterbesetzung hinausgeht: die Komponistin besitzt eine ganze Sammlung außereuropäischer Instrumente und greift auf diese regelmäßig in ihren Arbeiten zurück.
Trotz all der Anerkennung und des persönlichen Erfolgs blickt Gubaidulina eher pessimistisch auf die Gegenwart. Auch aus diesem Grund hat sie vor einigen Jahren das Oratorium Über Liebe und Hass geschrieben, das 2016 in Tallinn zur Uraufführung kam und als ihr Opus summum gilt. Liebe dorthin tragen, wo Hass regiert – so hat sie einmal ihr künstlerisches Anliegen beschrieben.
Sofia Gubaidulina lebte seit 1992 in Deutschland, in einer kleinen Gemeinde nordwestlich von Hamburg. Ihr Nachbar war der 2012 verstorbene russische Komponist Viktor Suslin, mit dem sie in den 1970er-Jahren eine Improvisationsgruppe gründete. Sofia Gubaidulina verstarb 2025 im Alter von 93 Jahren.
Stand: Dezember 2025