Konzert | Gastensemble
Komponieren bedeutet, so Pierre Boulez, immer auch Forschungsarbeit, und konzentriertes Hören vollzieht sich stets auch als Ersehnen und Ordnen von Überraschungen. In der Polarität von Komponist und Hörer übernehmen bisweilen die Mittler, die Interpreten, eine Schlüsselrolle. Ihre Stunde kommt, wenn ein Werk seine historische Existenz antritt; sie tragen seine Wirkungsgeschichte. Boulez’ Zweite Sonate und sein Marteau sans maître sind mehr als fünfzig bzw. sechzig Jahre alt, so alt wie zur Entstehungszeit der Zweiten Sonate Brahms’ Vierte Symphonie. Für die Wahrnehmung und Wertschätzung der Werke spielen die Polemiken der Entstehungszeit keine Rolle mehr. Die Freiheit des Interpreten kann ihre innere Vielfalt unterschiedlich akzentuieren, kann Eigenheiten herausheben, die bei den ersten Aufführungen im Hintergrund blieben, zum Beispiel eine Gestik, welche die Tradition, aus der sie stammt, zugleich beschwört und bricht, oder Schlusswirkungen, die angesteuert, widerrufen, überspielt oder zu Signalen für einen Neuansatz werden.
Musik bleibt an Dramaturgie gebunden, ist immer auch Theater (Berio) und Nachbarin der Sprache. Perkussive Felder lassen in beiden Werken übergeordnete Strukturen hervortreten, Linien, bebende Klangräume, Materialverdichtungen, deren Anziehungs- und Abstoßungskraft über weite Strecken in Raum und Zeit reicht. Sie gleichen bisweilen den Effekten, die Ligeti an der zentralafrikanischen Amadinda-Musik faszinierten. Boulez war kein Musikethnologe, obwohl er sich auch mit diesem Wissenszweig beschäftigte. Aber wie andere Zeitgenossen artikulierte er den Drang der europäischen Musik über ihre Ausdrucks- und Denkgrenzen hinaus. Im Marteau sans maître erkannte er selbst eine »Annäherung an Klangvorstellungen des Fernen Ostens«. Der Hammer, dem der Meister abhanden kam, kann Guck- und Hörlöcher schlagen, die selbst den Komponisten überraschen, und die er bisweilen als sein eigener Hörer neu entdeckt.
Pierre Boulez [geb. 1925]
Deuxième Sonate
für Klavier [1946/48]
Pierre Boulez
Le Marteau sans maître
für Altstimme und sechs Instrumente [1953/55; rev. 57]
auf Gedichte von René Char
1. Avant l’Artisanat furieux. Rapide – 2. Commentaire I: de Bourreaux de solitude. Lent
3. L’Artisanat furieux. Modéré sans rigueur – 4. Commentaire II: de Bourreaux de solitude. Rapide
5. Bel édifice et les pressentiments / version première – 6. Bourreaux de solitude. Assez lent
7. Après l’Artisanat furieux. Rapide – 8. Commentaire III: de Bourreaux de solitude. Assez lent
9. Bel édifice et les pressentiments / double. Tempo libre de récit.
Dimitri Vassilakis – Klavier
Margriet van Reisen Alt