
Film
Ode to Seekers 2012 © Andrew Norman Wilson
Woher kommt das steigende Interesse daran, in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken ausgerechnet den eigenen Untergang und den Untergang der Welt möglichst immersiv zu erfahren? Erstmals präsentiert The New Infinity im Kinosaal des Zeiss-Großplanetariums ein von der Künstlerin Agnieszka Polska für diesen Anlass kuratiertes Filmprogramm. Die ausgewählten Beiträge reagieren mit ihrer je eigenen Erzählung und Poetik auf die Konfrontation mit einer dem Ende geweihten Umwelt. Sie sind Berichte von dramatischen Transformationserfahrungen, von der Zirkulation von Substanzen und Körpern ebenso wie von immateriellen Informationsströmen. Mit Filmen von Jeremy Shaw, Ana Vaz, Andrew Norman Wilson, Jane Jin Kaisen und Cyprien Gaillard.
In einer Mischung aus unheimlicher Hypnose-Kassette und pseudo-psychoanalytischem Video-Fragebogen verwickelt „Introduction to The Memory Personality“ den/die Betrachter*in in eine verführerische Zentralperspektive über das menschliche Bewusstsein und die Erinnerung. Die VHS-Ästhetik dieser Arbeit, die für die Ausstellung „One on One“ 2012 im KW Berlin entstand, in der jedes Werk nur von je einer Person gleichzeitig zu betrachten war, dient als ausgleichendes Element für einen alchemistischen Mix aus Neurowissenschaften, Motion-Graphics, POV, Techniken der Gedankensteuerung, Found Footage-Collagen und einer geheimnisvollen Erzählung, die Momente aus einer realen oder imaginären Vergangenheit zurückholt. „Introduction to the Memory Personality“ wirkt wie ein kurioses Objekt aus einem Trödelladen: Man nimmt es mit nach Hause, betrachtet es von allen Seiten und legt es schließlich irgendwo tief in der eigenen Psyche ab.
„Man könnte sagen, dass sich ein Feuerwerkskörper nicht von einem Baum oder einer großen künstlichen Blume unterscheidet, die wächst, sich entwickelt, blüht und in wenigen Sekunden vergeht. Verwelkt verschwindet sie schließlich bald in unerkennbaren Bruchstücken. Nehmen wir dieses Feuerwerk und lassen es einen Monat lang bestehen, dann haben wir eine Blume mit allen Eigenschaften anderer Blumen. Oder kehren wir die Reihenfolge der Faktoren um und stellen uns vor, dass der Samen einer Pflanze wie eine Bombe explodieren kann.“ – Bruno Munari
„Ode to Seekers 2012“ (2016) ist die zweite Zusammenarbeit zwischen Andrew Norman Wilson und dem rumänischen Animator Vlad Maftei. Sie entstand im Rockland Psychiatric Center in Orangeburg, New York, wo sich die verlassene Kinderstation befindet, die im Video zu sehen ist. In einer Übertragung von John Keats' Gedicht „Ode on a Grecian Urn“ (1820) auf das Medium Video entsteht eine filmische Arbeit in endlosem Loop. Die Ekphrasis – die grafische, dramatische Beschreibung eines visuellen Kunstwerks – wechselt von Keats' Urne und der darin dargestellten feierlichen Szene zu einer verlassenen Kinderstation in einer psychiatrischen Anstalt und der von Wilson und Maftei komponierten Szene. „Welch' verrücktes Streben? Welcher Kampf um die Flucht? Was für Pfeifen und Pauken? Welch' wilde Ekstase?“ Die Fragen, die Keats den Bildern auf der Urne stellt, werden für den/die Betrachter*in von „Ode to Seekers“ visuell übersetzt in eine Szenerie, in der eine Mücke, eine Spritze und eine Ölpumpe ihre Stacheln in eine Oberfläche stechen, die an menschliche Haut unter dem Mikroskop ebenso erinnert wie an eine Salzwüste oder einen Kartoffelauflauf.
"Strange Meetings“ wurde in einer ehemaligen Behandlungseinrichtung für sexuell übertragbare Krankheiten in der Nähe der DMZ in Südkorea gedreht. Die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten unter in Korea stationierten US-Soldaten führte in den 1970er Jahren zu einer bilateralen Krise. Frauen, die in den US-Militär-Camptowns arbeiteten, wurden häufig verdächtigt, Überträgerinnen von Geschlechtskrankheiten zu sein, einige von ihnen wurden in der Einrichtung zwangsweise festgehalten. Während das Gebäude dazu diente, mutmaßlich kontaminierte Körper von denen zu trennen, die als sauber galten, zeugt der Ort heute von den verwickelten Beziehungen, die hinter seiner Einrichtung standen, und von der Unmöglichkeit klarer Trennungen. Das ehemalige Zentrum für Geschlechtskrankheiten ist nicht nur ein verlassener Ort, der dem Verfall preisgegeben ist, sondern dient jetzt auch als Kulisse für eine andere seltsame Begegnung: Jedes Wochenende findet hinter dem Gebäude eine Performance statt, die ungewollt die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verkompliziert, den Blick auf diesen Ort überschreibt und seine Geschichte auszulöschen droht.
Wie bei vielen Arbeiten von Cyprien Gaillard verbindet auch „Ocean II Ocean“ (2019) disparate, suggestive Referenzen zu einem Konzert aus Bildern, Ton und Bewegung. Der Film ist in zwei Abschnitte unterteilt, die in einem Loop aufeinander folgen. Im ersten Teil fokussiert Gaillards Kamera auf Fossilien, die in den unterirdischen Wänden von Metrostationen in Russland und dem ehemaligen Sowjetblock verkrustet sind. Die Fossilien erzählen von der prähistorischen, wässrigen Geschichte der Orte, die diese Materialien hervorgebracht haben. Der zweite Teil von „Ocean II Ocean“ folgt den MTA-U-Bahn-Waggons auf ihrer Reise über die Gleise hinaus ins Meer, wo sie feierlich in den Atlantik gekippt werden, um als Substrat für zukünftige Riffe zu dienen. Die Kamera taucht unter die Wasseroberfläche und fängt Meerestiere ein, die sich zwischen den Stahlwaggons bewegen. Die frenetische Energie der Tonspur des Films, die Gaillard aus Samples von Aufnahmen eines Steel-Pan-Orchesters produziert hat, verbindet diese Kadaver aus Edelstahl mit dem perkussiven Klang von Stahl. Die Stahlpfannen, die für ihre karnevalesken Klänge bekannt sind, stammen historisch aus Trinidad und Tobago und werden traditionell aus ausrangierten Ölfässern hergestellt, deren ursprünglicher Inhalt sowohl auf die Gewinnung fossiler Brennstoffe als auch auf die heutige Verschmutzung und die Auslöschung des Lebens unter Wasser verweist. In einem thematischen und materiellen Zusammenhang macht Gaillards Film die wiederkehrenden Gezeitenbewegungen der Ozeane und die Wechselwirkungen der Erde mit der menschlichen Geschichte deutlich.
Jeremy Shaw: Introduction to the Memory Personality (2012, 12 min 38s)
Ana Vaz: Atomic Garden (2013, 8 min)
Andrew Norman Wilson: Ode to Seekers 2012 (2016, 8 min 30s)
Jane Jin Kaisen: Strange Meetings (2017, 4 min 55s)
Cyprien Gaillard: Ocean II Ocean (2019, 11 min)