Tanz

Caperucita Roja

Renata Flores
Junge Choreograf*innen, Bad Honnef tanzt e. V., Nordrhein-Westfalen

Die Tänzerin sitzt  auf ihren Knien, der oberkörper aufrecht, auf der dunklen Bühne. Rotes licht fällt auf sie, sie trägt schwarze Kleidung und einen langen roten Mantel.

Renata Flores mit Caperucita Roja © Jella Dehmer

In ihrem Solo setzt sich die 18-jährige Renata Flores mit Identität, Selbstwahrnehmung und kultureller Zugehörigkeit auseinander. Ausgangspunkt ist ihre eigene Lebensgeschichte: Als Kind aus Mexiko nach Deutschland gekommen, erzählt sie durch Bewegung, Sprache und Symbolik vom Ringen um einen Platz zwischen zwei Kulturen. Kleidungsstücke stehen für Rollen, die sie ausprobiert, aber wieder abgelegt hat. Ein Spiegelturm wird zur Projektionsfläche für Unsicherheiten – aber auch für die Kraft, sich selbst treu zu bleiben und zu akzeptieren. Ihre Muttersprache und Rotkäppchen als Symbol für Kindheit und Erinnerung stehen im Mittelpunkt des Solos. Ein kraftvoller Tanz über das Erwachsenwerden und die Suche nach Zugehörigkeit, ohne sich selbst zu verlieren.

Die Jungen Choreograf*innen sind eine freie, alters-, fähigkeits- und kulturgemischte Jugendtanzkompanie aus Bad Honnef. Im Rahmen des Vereins „Bad Honnef tanzt“ erhalten die Teilnehmenden die Möglichkeit und das Handwerkszeug, eigene Tanzstücke zu entwickeln – von der ersten Idee bis zur Bühnenreife. Im Zentrum stehen die individuellen Perspektiven der Jugendlichen sowie ein selbstbestimmter künstlerischer Prozess – ohne festgelegte Tanztechnik oder vorgeschriebenen Stil. Begleitet durch Coaching professioneller Künstler*innen verschiedener Sparten arbeiten die Jungen Choreograf*innen eigenständig an ihren Konzepten, tauschen sich interdisziplinär untereinander aus und bekommen Raum für Experimente, Reflexion und Entwicklung. Die Arbeiten werden regelmäßig öffentlich präsentiert, unter anderem beim eigenen jährlichen Tanzfestival vor Ort. 2024 wurde ein Stück der Kompanie erstmals zum Tanztreffen der Jugend eingeladen.

Jurykommentar von Raphael Moussa Hillebrand und Mila Lipicar

Eine Solo-Performance als künstlerischer Akt der Selbstermächtigung

In ihrem selbst entwickelten Solo „Caperucita Roja“ schafft Renata Flores ein ebenso kraftvolles wie berührendes Bühnenereignis. Ausgehend von der bekannten Figur des Rotkäppchens entwirft sie eine vielschichtige autobiografische Erzählung, in der das Märchenhafte mit dem Persönlichen, das Verletzliche mit dem Widerständigen und das Spielerische mit dem Politischen in einen dichten künstlerischen Dialog treten.

Renata nutzt die Erzählstruktur des Märchens um die Geschichte umzuschreiben – und zwar mit dem eigenen Körper als Medium. Was bei ihr auf der Bühne geschieht, ist ein existenzieller Ausdruck innerer Erfahrung. Dabei verwebt sie Tanz, Musik, Licht, Bühnenbild und Kostümgestaltung zu einem kohärenten und poetischen Gesamtkunstwerk. Jedes dieser Elemente ist durchdacht, präzise gesetzt und unterstützt die emotionale und narrative Kraft der Performance.

Besonders eindrücklich ist sowohl die physische Ausdrucksstärke als auch Renatas Spiel mit den Stilmitteln. Während ihre tänzerische Darbietung erzählt, widersteht, aufbricht, sich schützt und herausfordert, tritt die Tänzerin bewusst in Beziehung zur sorgfältig ausgewählten Musik und zum Bühnenbild: Überall sind persönliche und emotional aufgeladene Gegenstände platziert.

Renata füllt und nutzt den ganzen Bühnenraum und verändert diesen und ihr Kostüm ganz so, wie es ihre persönliche Geschichte verlangt. Durch den Wechsel zwischen kraftvollen Bewegungen und Momenten der Stille entsteht eine emotionale Tiefe, die das Publikum unmittelbar erreicht und herausfordert. Renatas Solo ist ein Tanz, der sich nicht nur durch Technik, Ästhetik und Bühnenbild auszeichnet, sondern vor allem durch Authentizität.

Was besonders heraussticht, ist der autobiografische Bezug und dessen transformative Wirkung. Renata nutzt ihre Geschichte, um daraus Kraft zu schöpfen und eine künstlerische Form zu finden, die über das Persönliche hinausweist. Sie schafft damit Identifikationsräume, gerade für junge Menschen, die sich mit Themen wie Selbstbestimmung, Othering, Rollenbildern und Stärke inmitten von Verletzlichkeit auseinandersetzen.

„Caperucita Roja“ ist mehr als eine Soloarbeit – es ist eine choreografische Selbstbehauptung, eine Einladung zum Perspektivwechsel, ein starkes Zeichen für die künstlerische Ausdruckskraft junger Tänzer*innen. Renata Flores zeigt mit dieser Performance eindrucksvoll, wie Tanz zum politischen, biografischen und zugleich poetischen Medium werden kann. Ihre Arbeit bewegt – im tiefsten Sinne des Wortes. Die Jury würdigt mit „Caperucita Roja“ eine künstlerisch eigenständige, durchdachte und emotional berührende Performance, die durch ihre Komplexität, ihre gestalterische Klarheit und ihre thematische Relevanz herausragt. Renata Flores ist mit dieser Arbeit eine bemerkenswerte Stimme im zeitgenössischen Tanz – mutig, ehrlich und absolut eigen.

Von und mit

Renata Flores

Anna-Lu Masch – Coaching