Konzert
Die späten 1960er
Arturo Tamayo © Daniel Vass
Die späten 1960er Jahre waren geprägt von kritischen Diskursen, Demokratie- und Wertediskussionen, die auch in der zeitgenössischen Musik ihren Niederschlag fanden. Nicht nur Helmut Lachenmann brachte dies zu einem Nachdenken über die Daseinsberechtigung von Musik überhaupt. Nur in der Negation des konventionellen musikalischen Ausdrucks lagen Möglichkeiten, dem „Anachronismus eines Konzerts für Solo und Orchester neue Funktionen abzugewinnen“, schreibt er 1969 zu seinem Orchesterwerk „Air“.
Musik, die sich auf den Klang an sich und seine Erzeugung bezieht, ein unverschleierter, prosaischer Zugang zum Gehörten, zum Instrument und zur klingenden Situation gaben Lachenmann den Impuls zu diesem Stück. Das Solo-Schlagzeug schien ihm das augenfälligste Medium solcher „Klangrealistik“. Strukturelle Klarheit geht hier einher mit energetischen Prozessen, die der Musik metaphysische Kraft verleiht.
Dies trifft auch für den symphonischen Torso „Beta“ des großangelegten Triptychons „Firecycle“ von Brian Ferneyhough zu. Als Ferneyhough ihn 1969 zu schreiben begann, war an eine Aufführung dieses Werkes gar nicht zu denken. Es war sein erstes Orchesterwerk überhaupt und es stellte zugleich eine utopische Vision einer befreiten Musiksprache dar. In aller Konsequenz sollte es bis heute ein Torso bleiben. „Beta“, der zentrale Teil zwischen den ursprünglich geplanten Teilen „Alpha“ und „Gamma“, geht aus einem dialektischen Zusammenspiel zwischen zwei idealen Extremen hervor, veranschaulicht aber in seiner Unvollkommenheit gleichsam Unendlichkeit, so Ferneyhough. Die Idee der Opposition von Gruppen und das Phänomen von Distanz und Perspektivwechsel bestimmen die Komposition. So gibt es in „Beta“ neben hervortretenden Solisten mehrere Ensemblegruppen, die unabhängig voneinander dirigiert werden, so dass neben dem Hauptdirigenten vier Ko-Dirigenten im Einsatz sind.
Ein französisches Pendant und weiteres musikhistorisches Zeugnis jener bewegenden Zeit finden wir bei dem viel zu jung verstorbenen Jean-Pierre Guézec, Schüler und Nachfolger Oliver Messiaens am Conservatoire de Paris. Er brachte die Konzepte von Klangfarbe, Rhythmus, Volumen, Sonorität und Dichte etwa eines Messiaen, Varèse, Boulez und Xenakis zur einer erstaunlichen Synthese.
Unter der Leitung von Arturo Tamayo und gemeinsam mit der herausragenden Perkussionistin Robyn Schulkowsky, dem GrauSchumacher Piano Duo und vier Ko-Dirigenten spielt das Konzerthausorchester somit ein Trio von herausfordernden Werken und einzigartigen Dokumenten ihrer Zeit, die den frischen Geist jener Zeit bewahrt haben.
Helmut Lachenmann
Air
Musik für großes Orchester und Schlagzeug-Solo (1968/69, rev. 1994)
Jean-Pierre Guézec
Formes
für Orchester (1966) DE
Brian Ferneyhough
Firecycle Beta
Symphonischer Torso für zwei Klaviere und Orchester mit fünf Dirigenten (1969-1971)
Konzerthausorchester Berlin
Arturo Tamayo, Leitung
Robyn Schulkowsky, Schlagzeug
GrauSchumacher Piano Duo:
Andreas Grau / Götz Schumacher
Cecilia Castagneto / Armando Merino / Elena Schwarz / Fabio Sperandio, Ko-Dirigenten
In Zusammenarbeit mit Konzerthaus Berlin und Berliner Künstlerprogramm des DAAD und mit Unterstützung des Wissenschaftskollegs zu Berlin.