© K Allado-McDowell

K Allado-McDowell

Neuronale Interpellation

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Medien- und Subjekt-produktion

Als ich 2016 das Programm „Artists + Machine Intelligence“ bei Google AI mitbegründete, war es 50 Jahre her, dass die Bell Labs mit ihren 9 Evenings im Rahmen von EAT (Experiments in Art and Technology) ein bahnbrechendes Kunstevent veranstaltet hatten. Bei dieser Reihe von neun Performances arbeiteten Künstler*innen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wie Robert Rauschenberg, Merce Cunningham und John Cage mit Ingenieur*innen der Bell Labs zusammen. Das Programm 9 Evenings war umstritten. Es gab technische Probleme; manche bezeichneten es als Reinfall. Die Verbindung von Big Tech und Avantgarde-Kunst schrie förmlich nach Kritik und – wenn man bizarre KI-Phänomene wie DeepDream von 2015 betrachtet – nach einem zweiten Anlauf. Ist es möglich einem Konzernriesen Poesie einzuhauchen? Warum nicht im 21. Jahrhundert einen neuen Versuch wagen?

Bei meinen Recherchen zum EAT-Event stieß ich auf die Arbeit von Fred Turner, einem Historiker der Stanford University, dessen Underground-Narrativ das Silicon Valley mit den „Acid Tests“ (LSD-Partys) der 1960er Jahre und einem noch weiter zurückliegenden Propagandaprogramm aus dem Jahr 1939 verknüpft, welches auf den höchsten Ebenen des amerikanischen Staatswesens entwickelt wurde. Das „Committee for National Morale“ („Kommission für nationale Moral und Kampfgeist“) wurde von der Roosevelt-Regierung einberufen; Anthropolog*innen, Pädagog*innen, Psycholog*innen, Journalist*innen, Kunsthistoriker*innen, Ärzt*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Radio- und Filmindustrie, Expert*innen für Außenpolitik und andere sollten zusammenarbeiten, um die Kriegsmoral zu verbessern.

Die Kommission sollte herausfinden, wie man Subjekte erschaffen kann, die der hypnotisierenden Wirkung von Einkanal-Rundfunkmedien widerstehen. Nachdem die amerikanische Regierung festgestellt hatte, dass die Bevölkerung durch Radiosendungen dazu gebracht werden konnte, einer einzigen totalitären Botschaft zu folgen, versuchte sie, dem Faschismus entgegenzuwirken, indem sie Medien entwickelte, die bestimmte Arten von Subjekten ansprachen und kultivierten – nämlich demokratische, frei denkende, individualistische Subjekte.

Die Genialität der Kommission lag in der Erkenntnis, dass die Strukturen der Medien Subjektivität erzeugen. Zwei Mitglieder der Kommission, Margaret Mead und Gregory Bateson, haben diese Theorie später in Filmen und Installationen für das MoMA umgesetzt. Die von ihnen verwendeten formalen Strukturen wurden später von der Gegenkultur der Hippies übernommen, aus der das Silicon Valley, Multimedia und das Internet hervorgingen – welche wiederum, bewusst oder unbewusst, viele Prioritäten der Kommission übernahmen. Turner nennt diese demokratische Medienform „surround media“ („umgebende Medien“) und ordnet sie damit einer anderen Kategorie zu als die Einkanal-Medien wie Film und Fernsehen.

Im philosophischen Bezugsrahmen von Louis Althusser wird das Konzept der Interpellation, das oft auch als „Anrufung“ bezeichnet wird, als ein allgemeiner und unbewusster Mechanismus beschrieben, durch den ideologische Systeme Individuen mit bestimmten Identitäten konfrontieren und sie zu deren Annahme ermutigen. Ein anschauliches Beispiel: Ein*e Polizist*in spricht auf der Straße eine Person an. Die*der Polizist*in ruft: „Hey, Sie da!“ Reagiert man auf den Ruf, nimmt man die angebotene Identität an: die einer kriminellen Person. Aber Interpellation funktioniert nicht immer so direkt. Sie wird von jedem ideologischen Apparat wie der Familie, der Kirche usw. angewandt – aber auch von technischen Strukturen. Kritisch über künstlerische und mediengesteuerte Erfahrungen nachzudenken bedeutet, die Interpellation zu erkennen, während sie stattfindet, und sich der Bandbreite an Identitäten bewusst zu werden, die eine bestimmte Technologie, ein bestimmtes Medium oder eine Kunstform anbietet.

Turners Unterscheidung zwischen Rundfunk und „umgebenden Medien“ ist sehr nützlich, um über Interpellation nachzudenken. Doch mit dem Aufkommen von KI und generativen Medien erweitern sich die verfügbaren Medientypen und die Arten von Subjektivität, die sie zur Interpellation bieten. Wenn man davon ausgeht, dass KI (die ich hier unter der größeren Kategorie „neuronale Medien“ zusammenfasse) ein neuer Medientyp ist und dass wir gerade dabei sind, den Charakter dieses Medientyps kollektiv zu verhandeln, dann muss man daraus schließen, dass wir auch die Möglichkeiten der Interpellation verhandeln. Anders ausgedrückt: Indem wir mit den Strukturen der KI interagieren, werden neue Arten von Subjektivität in uns entstehen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir jetzt darüber nachdenken, was KI mit unserem Bewusstsein und unserer Subjektivität macht und machen wird. Was wird KI aus uns herausholen? Zu wem werden wir durch KI?

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Taxonomie

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Um dies zu vereinfachen, habe ich eine Taxonomie der Medientypen entwickelt, die auf Turners Kurzformel Rundfunk/umgebende Medien, Faschismus/Demokratie basiert. Innerhalb jeder Kategorie habe ich drei Eigenschaften identifiziert: Raum, Inhalt und Identität. Jede Medienkategorie hat einzigartige Eigenschaften, obwohl die Kategorien aufeinander aufbauen und ihre Eigenschaften sich gegenseitig bedingen. Im Folgenden beschreibe ich jede Kategorie und ihre Beziehung zu ihren Vorgängerkategorien und ihrem historischen Kontext.

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Rundfunk (1920–1950)

Wie die Tabelle oben verdeutlicht, produzieren die Rundfunkmedien einen zentralisierten Raum mit Sendungs-Inhalten für demografische Identitäten.

Trotz ihrer flüchtigen Natur organisieren elektronische Medien den physischen Raum noch vor den sensorischen oder mentalen Räumen. Im Fall von Radio und Fernsehen versammeln sich Familien und Gemeinschaften in privaten Umgebungen oder „Dritträumen“ wie Wohnzimmern, Gaststätten usw., um sich auf eine einzige Nachricht zu konzentrieren, die in diesen Räumen übertragen wird. Alle Teilnehmenden hören dieselbe Sendung. Selbst auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene werden Inhalte und Erzählungen in privaten Studios und Sendeanstalten zentralisiert. Für einen Großteil des 20. Jahrhunderts bestand das amerikanische Fernsehen zum Beispiel aus den Sendern NBC, ABC und CBS. Der von den Rundfunkmedien produzierte Raum ist zentralisiert, konvergierend und einheitlich.

Diese Einheitlichkeit erstreckt sich auch auf die Art der Inhalte, die über diese Medien ausgestrahlt werden. Fernsehen und Radio ordneten ihre Inhalte in „Sendungen“. Dabei handelte es sich um Unterhaltungseinheiten, die nach bestimmten Formeln und Mustern strukturiert waren, wie zum Beispiel die halbstündige Familien-Sitcom, die Late-Night-Show und die Abendnachrichten. Jede Sendung hatte ihre eigenen Subjektformen: die Kernfamilie mit Mutter und Vater, den witzigen Komiker im Smoking und seine Begleitband oder den Respekt einflößenden und beliebten Nachrichtensprecher, eine Vaterfigur, die die Realität erschafft. Die physischen, technischen, geschäftlichen und inhaltlichen Strukturen der Rundfunkmedien weisen also allesamt die Eigenschaft der programmatischen Zentralisierung auf.

Die zentralisierten und niedrig auflösenden Identitäten der Rundfunksendungen spiegeln sich auch in der Art und Weise wider, wie das Publikum von den Manager*innen dieser Plattformen durch die Marktforschung verstanden werden. Die Marktforschungen und Leistungserhebungen des Unternehmens Nielsen wurden 1923 ins Leben gerufen. Im Jahr 1936 erwarb das Unternehmen die Rechte an einem Gerät namens Audimeter, das die Publikumsgewohnheiten aufzeichnete und es Nielsen ermöglichte, neben seinen Konsumenten-, Alkohol- und Arzneimittelindizes auch einen Fernsehindex zu erstellen. Die präzise Erfassung der Publikumsgewohnheiten durch das Audimeter ermöglichte Einstufungssysteme und Werbestrategien, die den Grundstein für die moderne Werbetechnologie und ihre Konsumentenforschung legten.

Diese Systeme waren hinsichtlich ihrer Modellierung der Identitäten von Nutzer*innen recht grob. In den 1960er Jahren wurden die Personen in den Nielsen-Erhebungen beispielsweise nach Alter, Geschlecht, sozio-ökonomischem Status und Wohnort eingeteilt. Diese spezifische Identitätsmatrix mag eher konsumorientiert als faschistisch sein, trotzdem spiegelt sie die begrenzte Bandbreite an Subjektivitäten wider, die der Interpellationsmechanismus der Rundfunkmedien bietet. In diesem Sinne sind die von den Rundfunkmedien angebotenen Identitäten demografisch.

Mit der Übertragung der Ergebnisse der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen durch den Radiosender KDKA in Pittsburgh, Pennsylvania, begann 1920 die regelmäßige Ausstrahlung von Sendungen für ein Massenpublikum. Die BBC fing 1936 in London an, regelmäßige Fernsehsendungen zu übertragen. In den 1950er Jahren beherrschten Radio und Fernsehen die Medienwelt und eine neue Medienform war auf dem Vormarsch, die Turner als „umgebende Medien“ bezeichnet; ich nenne sie „immersive Medien“. Dieser dreißigjährige Zyklus der Entstehung, Reifung und Veränderung von Medientypen ist in jeder Medienkategorie zu finden.

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Immersive Medien (1950–1980)

Das „Committee for National Morale“ schlug eine Alternative zu den Einkanal-Medien und ihren faschistischen Tendenzen vor. Ihr neues Modell verkörperte ein demokratisches Ethos der individuellen Bedeutungsproduktion in einer verräumlichten Medienumgebung. Durch die Notwendigkeit, in einem 360-Grad-Medienumfeld zu navigieren, sollte jede Betrachter*in gezwungen werden, die angebotenen Bilder zu interpretieren. Diese individualistische Form der Bildnarration sollten die demokratische Moral stärken, indem sie eine freie Wahl ermöglichte, ja sogar forcierte. Das Komitee verstand dies als notwendige Abmilderung der antiautoritären Tendenzen in der amerikanischen Bevölkerung. Indem man zumindest die Illusion einer Wahlmöglichkeit schuf, konnten nationalistische Botschaften die Skepsis der Amerikaner*innen unterlaufen und einen subtileren Einfluss ausüben, der sich auf die Medien und das soziale Umfeld verteilte. In diesem Sinne schaffen immersive Medien einen distribuierten Raum, der eine Erfahrung zur Konstruktion von Identität bereitstellt.

Fast ein Jahrzehnt vor der Einberufung des Komitees hatte der Bauhaus-Künstler Herbert Bayer eine neue Perspektive entworfen, die auf einem 360-Grad-Sichtfeld basierte. Bayer zufolge zeichnete sich die neue Perspektive im Gegensatz zur starren Renaissance-Perspektive durch ihre Dynamik aus. Das Auge war gezwungen, durch den Raum zu wandern und seinen Blickwinkel und seine Position mit der Zeit zu verändern. Im Jahr 1943 feierte seine Ausstellung Airways to Peace im MoMA den Flugverkehr als eine Form der militärischen Dominanz. Sie zeigte einen invertierten Globus, in dem man von der Erde und ihren Flugbahnen umgeben war. Der Wandtext proklamierte: „Frieden muss auf einer weltweiten Basis geplant werden. Aus der Luft betrachtet, sind Kontinente und Ozeane offensichtlich bloß Teile eines Ganzen. Es ist unausweichlich: Es kann keinen Frieden in irgendeinem Teil der Welt geben, solange die Grundlagen des Friedens nicht in allen Teilen der Welt gesichert sind. In Zukunft müssen wir weltweit denken.“

Dieser globale, distribuierte Blick fand sich zwölf Jahre später in Edward Steichens Ausstellung Family of Man im MoMA wieder. Hunderte Bilder von Fotograf*innen aus der ganzen Welt bildeten „eine nachdrückliche Erklärung der globalen Solidarität … und feierte die universellen Aspekte der menschlichen Erfahrung.“ Auch die Amerikanische Nationalausstellung 1959 in Moskau fand unter einer Kuppel und in einer Umgebung von Bildern statt. Charles und Ray Eames’ Glimpses of the USA zeigte die Weite, Vielfalt und automobile Infrastruktur Amerikas in einer simultanen Filmpräsentation auf mehreren Leinwänden.

Der Modus des Immersiven wurde später von verschiedenen Persönlichkeiten der Gegenkultur aufgegriffen, deren Aktionen auf diesen Ausstellungen aufbauten, unter anderem in Happenings von Allan Kaprow wie Yard aus dem Jahr 1961, bei dem die Besucher*innen aufgefordert waren, mit einer Galerie voller gebrauchter Autoreifen zu tun, was sie wollten. The Merry Pranksters, die Erfinder*innen der berühmten „Acid Tests“, fügten dem immersiven Medium das psychedelische Element hinzu. Und Stan Van der Beek (ein ehemaliger Mitarbeiter der Bell Labs) schuf 1963 – in etwas technokratischerer Manier – das Movie-drome, in dem viele Filme gleichzeitig auf die Innenseite einer Kuppel projiziert wurden. In all diesen Umgebungen wurden Ton und Bild um die Betrachtenden herum distribuiert, so dass sie zu Teilnehmenden wurden, die innerhalb der bereitgestellten Bilder Bedeutung und Subjektivität konstruierten.

Viele dieser Teilnehmenden schlossen sich später Institutionen wie dem Whole Earth Catalog und dem Homebrew Computer Club an, die beide an der Entwicklung des Personal Computers und des frühen Internets beteiligt waren. Dem dreißigjährigen Zyklus von Entstehung, Reifung und Veränderung der Medientypen folgend, brachten die immersiven Medien in den 1980er Jahren nicht nur den Personal Computer hervor, sondern auch das Internet und den nächsten aufkommenden Typus, die Netzwerkmedien.

Für die Betrachtenden des 20. Jahrhunderts, die noch nicht die Bilderflut des Internets kannten, waren die Inhalte der immersiven Medien exotisch und ausufernd. Wenn man diese Inhalte jedoch im 21. Jahrhundert aus der Perspektive des multipolaren Post-Internet-Zeitalters betrachtet, entpuppen sie sich eindeutig als pro-amerikanische, pro-demokratische Propaganda. Die immersive Umgebung und die wiederholt verwendete Kuppelstruktur werden zu einer Form der symbolischen Eingrenzung, die Möglichkeiten beschränkt und die künftige globale Ordnung vorwegnimmt, in der Luftwege nicht durch militärische Dominanz, sondern durch Handelsabkommen und kulturelle Hegemonie Frieden bringen. Die gegenkulturelle Logik der Boomer*innen, Identität durch die Aneignung östlicher oder Indigener Artefakte und Praktiken zu konstruieren, entstand auf natürliche Weise aus der Family of Man-Ausstellung. Genau ging auch die Gegenreaktion auf die Aneignung auf natürliche Weise aus den Netzwerkmedien hervor, die auf die immersiven Medien und die multipolare, postkoloniale Welt folgten.

Die Medienarten ersetzen einander nicht vollständig. Bis heute bündelt das Fernsehen die Aufmerksamkeit in Sendungen und nach demografischen Gruppen. Ebenso bieten trotz der Entstehung der Netzwerkmedien auch zeitgenössische Formen der Immersion wie Virtual und Artificial Reality, Las Vegas Sphere von MSG Networks, das Burning Man Festival oder die immersive Van Gogh-Ausstellung allesamt Erfahrungen für die Subjektproduktion in einem distribuierten Medienumfeld. Die (Social-)Media-Feeds, durch wie wir scrollen, basieren auf derselben räumlichen Distribuiertheit und globalisierenden Ideologie der oben genannten immersiven Ausstellungen – gehen jedoch durch ihre Eigenschaften als Netzwerkmedien noch weiter. Sie stützen sich auf die Erzählung der immersiven Medien von der Individualisierung durch Medienkonsum, führen diese aber zu ihrem logischen Ende.

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Netzwerk (1980–2010)

Die Kuppeln und Projektionen der immersiven Medien brachten den Globus nach Amerika – und Amerika auf den Globus. Wie das Fernsehen waren auch diese Räume zentralisiert, jedoch wurden die Bilder in ihnen verteilt. Die darauffolgenden Netzwerkmedien dezentralisierten die Achsen des Bild- und Informationsaustauschs. Personal Computer, Laptops und Smartphones, die über Netzwerke miteinander verbunden sind, verwandeln die Bildkuppel in eine Hypersphäre, die jede Oberfläche des Lebens einschließt. Jedes Gerät hat seinen eigenen Formfaktor und sein eigenes Interaktionsparadigma. Allen gemein ist ihre Rolle als Knotenpunkte in einem zirkularen Netzwerk der Informationsverteilung.

Strukturelle Visualisierungen des Internets haben oft eine organische Qualität, die an Venen, Lungen und sogar Neuronen erinnert. Doch trotz ihrer neuronenähnlichen Struktur funktionieren Netzwerkmedien eher wie Kreislauforgane. Um Inhalte über E-Mails, Foren, Blogs und soziale Medien zu verbreiten, müssen Nutzer*innen als Knotenpunkte im Netzwerk fungieren, indem sie die Feeds filtern und ihre eigenen Inhalte und die anderer ins Netzwerk einspeisen. Sie sind die zirkulierende Kraft, die die Inhalte im Netzwerk bewegt. Aus diesem Grund begünstigen Netzwerke virale und memetische Medien. In diesem Sinn bilden die Netzwerkmedien einen zirkulierenden Raum für memetische Inhalte und fraktale Identitäten.

Den Begriff „Meme“ prägte der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins in seinem 1976 erschienenen Buch „The Selfish Gene“ (dt.: „Das egoistische Gen“). Dawkins benutzte den Begriff, um eine Idee, ein Verhalten oder einen Stil zu beschreiben, der sich innerhalb einer Kultur von Mensch zu Mensch ausbreitet. Er leitete das Wort „Meme“ vom griechischen Wort „mimeme“ (dt.: etwas Imitiertes) ab. Er verstand es als Konzept, das dem des biologischen Gens ähnelt, aber in den Bereich der kulturellen Evolution fällt. Memes sind laut Dawkins Einheiten kultureller Informationen, die sich – ähnlich wie Gene in der biologischen Evolution durch natürliche Auslese – vermehren und weiterentwickeln. In den Netzwerkmedien wird diese Evolution durch Neurochemie angetrieben, durch glücksspielähnliche Belohnungsmechanismen in der User*innen-Experience, durch Anreize von Plattformen wie Umsatzbeteiligungen und Influencer*innen-Kampagnen und durch quantitative Transparenz in Bezug auf Follower*innen- und Impression-Zahlen von Posts und Profilseiten.

Die leichte Verfügbarkeit von subkulturellen Artefakten im Internet hat viele dazu veranlasst, den Tod des Undergrounds und der Gegenkulturen zu konstatieren. Doch das Internet und die sozialen Medien haben zahlreiche Meme-Komplexe hervorgebracht, die mit unterschiedlichen Subkulturen in Zusammenhang stehen. Tatsächlich erzeugen die Netzwerkmedien Identität auf fraktale Weise in rekursiven Beziehungen der Hyperindividualisierung. Diese Identitäten bewegen sich fließend zwischen demografischen und konstruierten Identitätsformen und bilden so eine Art molekularen Schaum der Nanoidentitäten.

Das vielleicht offensichtlichste Beispiel dafür ist das „Political Compass Meme“, ein beliebtes Online-Meme, das auf humorvolle Weise verschiedene Ideologien und politische Persönlichkeiten anhand einer 2D-Karte oder eines Kompasses kategorisiert. Die eine Achse steht für das wirtschaftliche Spektrum (links für eine eher sozialistische oder gemeinwohlorientierte Politik; rechts für eine eher kapitalistische oder individualistische Politik), die andere Achse steht für das soziale Spektrum (oben autoritär; unten libertär). In dem Meme steht jeder Quadrant des Kompasses für eine andere politische Ideologie: Links-autoritär, Rechts-autoritär, Links-libertär und Rechts-libertär.

Das Meme plaziert politische Figuren, popkulturelle Referenzen und Stereotypen in diesen Quadranten, um einen satirischen oder aufschlussreichen Kommentar zu ihren wahrgenommenen politischen Positionen abzugeben. Es wird verwendet, um sich über die Vereinfachung komplexer politischer Ansichten lustig zu machen und diese zu kritisieren – aber auch als Spielfeld, auf dem vielfältige politische und kulturelle Identitäten im Internet gesammelt und organisiert werden können. Diese Fraktalisierung von Identität und Subjektivität spiegelt sich in der weiteren multipolaren geopolitischen und kulturellen Umgebung wider. Nahmen die immersiven Medien den Aufstieg der neoliberalen Weltordnung vorweg, so prophezeiten die Netzwerkmedien deren Zusammenbruch.

Welche Arten von memetischen Monstern entwickeln sich in einer Ursuppe aus fraktalisierten Identitäten, multipolarer Geopolitik und viralen Medien? Natürlich Verschwörungstheorien. Die Produktion und Interpellation von Subjekten in den Netzwerkmedien ist eng verwoben mit maßgeschneiderten politischen Geschichtsschreibungen und Kosmologien. Die halluzinatorische Tendenz von neuronalen Netzwerken wird in diesem aufkommenden und generativen Phänomen bereits vorweggenommen. Wenn es in der Natur von Netzwerken liegt zu träumen, sind wir gefangen im Traum des Internets.

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Neuronal (2010–2040?)

Marshall McLuhan schrieb, dass „der ‚Inhalt‘ eines Mediums immer ein anderes Medium ist“. Im Fall der neuronalen Medien besteht der Inhalt aus sämtlichen Netzwerkmedien. Buchstäblich ist das der Fall bei Large Language Models (dt.: großen Sprachmodellen) und Bildgeneratoren, die mit riesigen Text- und Bildbeständen aus dem Internet trainiert werden. Es gilt aber auch in einem abstrakten Sinn. Im Gegensatz zu den Nutzer*innen von Netzwerkmedien agieren die Nutzer*innen von neuronalen Medien auf dem (und nicht im) Netzwerk. Anstatt als Knotenpunkte eines Netzwerks zu agieren, die Inhalte verbreiten, interagieren sie direkt mit der Gesamtheit des neuronalen Netzwerks.

Es kann gewinnbringend sein, neuronale Medien als eine aufkommende Eigenschaft von Netzwerkmedien zu betrachten. Betrachten wir zum Beispiel die KI-basierten Produktempfehlungen von Netflix und Amazon. Diese neuronalen Systeme wurden anhand des Verhaltens von Internetnutzer*innen (also von Nutzer*innen der Netzwerkmedien) trainiert und im Laufe des letzten Jahrzehnts Schritt für Schritt in die Backends der Plattformen integriert. Die Einführung der algorithmischen Timelines in die sozialen Medien Anfang und Mitte der 2010er Jahre kündigte still und leise die Mutation der Netzwerkmedien zu neuronalen Medien an; von da an waren beide Formen untrennbar miteinander verbunden. KI-Chatbots und Bildgeneratoren sind Früchte der neuronalen Medien, die immer in Netzwerkmedien eingebettet sind.

Im neueren KI-Diskurs bezieht sich der Begriff „Halluzination“ auf falsche Informationen, die von neuronalen Netzen „erfunden“ werden. Dies geht zurück auf die Analogie zum menschlichen Gehirn, das eine unwirkliche Empfindung oder Erfahrung halluziniert. In beiden Fällen sollte sich der Begriff jedoch auf sämtliche generativen neuronalen Aktivitäten beziehen. Das Erzeugen neuronaler Aktivität in einem maschinellen Modell ist immer eine Halluzination. Der Prozess ist immer derselbe, egal, ob das Ergebnis den bekannten Fakten entspricht oder nicht. Auch die menschliche Gehirnaktivität ist weitgehend halluzinatorisch. Wir erleben die Realität nicht direkt, sondern als eine neuronal vermittelte Teilmenge des sensorischen Inputs, vermischt mit internen Elementen wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Inhalt und Output neuronaler Systeme sind grundsätzlich halluzinatorisch.

Hochdimensionalität und Einbettung sind beim maschinellen Lernen eng miteinander verwoben. (Eine Erklärung zur Hochdimensionalität findet sich im vorigen Essay dieser Reihe). In einem KI-System ist eine Einbettung eine Methode zur Repräsentation von Daten – typischerweise von hochdimensionalen Daten wie Wörtern, Bildern oder komplexen Nutzerprofilen – in einen niedrigdimensionalen, kontinuierlichen Vektorraum. Diese Repräsentation dient dazu, wesentliche Merkmale und Beziehungen innerhalb der Daten zu erfassen. Zudem ist sie eine Form der Identität. Wenn Rundfunkmedien Subjekte durch demografische Cluster und Sendungsinhalte interpellieren, immersive Medien durch eine erfahrungsorientierte Mediensphäre und Netzwerkmedien durch fraktale Zirkulation, dann interpellieren neuronale Medien Subjekte durch halluzinatorische hochdimensionale Einbettungen. Die immersive Medien-Hypersphäre, die uns durch Smartphones und andere Geräte umgibt, wird zunehmend von KI-Systemen animiert, die uns selbst als Einbettungen in ihren hochdimensionalen Räumen widerspiegeln. In diesem Sinne erzeugen neuronale Medien einen hochdimensionalen Raum mit halluzinatorischen Inhalten für eingebettete Identitäten.

Im Gegensatz zu früheren Medientypen spüren neuronale Medien unsere Resonanz. Ihre halluzinatorische oder generative Natur ermöglicht einen wechselseitigen Austausch. KI lernt von uns – und wir werden von ihr beeinflusst. Wir könnten uns zum Beispiel mit einem Chatbot unterhalten, der unsere Interessen und unser Verhalten in einem Nutzer*innenprofil modelliert und dabei Antworten auf unsere Fragen generiert oder halluziniert. Wie die sprichwörtlich gewordene Kundin, die durch Produktempfehlungen herausfand, dass sie schwanger war, werden auch wir in einem neuronalen Einbettungsraum interpretiert. Das System passt sein Verhalten und seine Inhalte an, um uns diese Interpretation wiederzugeben. 

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Neuronale Medien gestalten

Folgen wir dem oben beschriebenen Dreißig-Jahres-Zyklus der Medientypen, können wir davon ausgehen, dass wir uns in der Frühphase der neuronalen Medien befinden – und dass sie sich noch einige Jahrzehnte weiterentwickeln werden, bevor sie zu etwas Neuem mutieren. Ich habe mich hier auf KI konzentriert, jedoch den Begriff „neuronale Medien“ gewählt, damit dieser Typus auf Gehirn-Computer-Schnittstellen und anderen Medientypen ausgeweitet werden kann, die auf neuronalen Strukturen und neuronalen Netzwerken basieren.

Es ist am einfachsten, ein Medium zu beeinflussen, wenn es noch jung ist. So wie es am einfachsten ist, festzulegen, wo ein Baum wächst, wenn er gepflanzt wird. Neuronale Medien übernehmen viele Kontexte und Eigenschaften ihrer Vorgängermedien – vor allem die immersive Qualität und die Interpellationsfunktion. Wenn wir entscheiden wollen, wie wir von den neuronalen Medien beeinflusst werden, wenn wir uns und unsere Subjektivität durch die Apparate der neuronalen Medien formen wollen, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Dazu müssen wir uns die einzigartigen Eigenschaften der neuronalen Medien zu eigen machen, indem wir sie erlernen und ausprobieren, mit einem kritischen Blick und einer klaren Vorstellung davon, was genau wir werden wollen.