Kalender 2023

Spinning Time

Die 60. Edition des Jazzfest Berlin gibt Raum für das Spielerische und Intuitive in der Musik und bringt in 36 Projekten unterschiedliche Generationen zusammen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen im Festivalprogramm vielseitige Verbindungen ein – sei es in der gelebten Erfahrung von Musiker*innen, die seit Jahrzehnten die Spielregeln ihrer Musik immer wieder neu definieren, oder im kreativen Potenzial derjenigen, die als Expert*innen auf dem Gebiet von Spiel und Intuition gelten können: der Kinder.

Die kommenden Generationen rücken beim Jazzfest Berlin 2023 bereits vor Beginn des Konzertprogramms ins Zentrum des Geschehens: In den Herbstferien bietet das Jazzfest ImproCamp erstmals 30 Kindern, die über verschiedene soziale Träger eingeladen werden, einen ganzheitlichen, transdisziplinären Zugang zur Kunst der Improvisation. Die Kinder blicken hinter die Kulissen und treffen in Gesprächen und Workshops auf Musiker*innen des Festivals. Zudem werden zur Eröffnung des Konzertprogramms 30 weitere Kinder zwischen neun und zwölf Jahren aus zwei Berliner Kinderchören nach mehrtägiger Probenphase mit Antonin-Tri Hoang und Romain Clerc-Renaud für die Auftragsinszenierung „Apparitions“ auf der Bühne im Festspielhaus stehen. Schließlich erweitern weitere Workshops und ein Seminar zu Artistic Leadership den Aktionsradius des Jazzfest Berlin 2023 um spannende Zusammenkünfte von Musiker*innen des Festivals mit Studierenden des Jazz Institut Berlin und der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin.

Zum diesjährigen Konzertprogramm gehören zudem einige der etablierten Ausnahmekünstler*innen, die – aus unterschiedlichen Traditionslinien kommend – die Spielregeln ihrer Musik und ihrer jeweiligen Instrumente über die vergangenen sechs Jahrzehnte immer wieder neu definiert haben. Unter diesen prägenden Künstler*innenpersönlichkeiten sticht der Komponist, Saxofonist und Flötist Henry Threadgill (US) mit einer Auftragskomposition für eine musikalische Zusammenarbeit seines Ensembles Zooid mit den Berliner Musiker*innen von Silke Eberhards Potsa Lotsa XL hervor. Damit knüpft die diesjährige Ausgabe an die lange Linie szeneübergreifender künstlerischer Begegnungen mit Leitfiguren der Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) an, wie sie bei Jazzfest-Ausgaben der letzten sechs Jahre immer wieder zu erleben waren. Außerdem teilt sich der ursprünglich im Experimental Rock beheimatete Pionier der Freien Improvisation Fred Frith (GB) erstmals mit Trompeterin Susana Santos Silva (PT) und Schlagzeugerin Mariá Portugal (BR) in einem generationenübergreifenden Trio die Bühne. Alexander von Schlippenbach (DE) und Aki Takase (JP) schöpfen vierhändig aus dem kreativen Fundus von 40 Jahren Ehe und insgesamt über 100 Jahren gelebter (Free) Jazz-Geschichte. Und Andrew Cyrille (US), dessen erster Auftritt bei den Berliner Jazztagen mit dem legendären Pianisten Cecil Taylor mehr als 50 Jahre zurückliegt, teilt sich in einer Europapremiere seines Duos mit Bill McHenry (US) den Abschlussabend mit gleich zwei weiteren Ikonen: Conny Bauer (DE), DDR-Freejazzer der ersten Stunde, lässt im Trio mit Hamid Drake (US) und William Parker (US) langjährige Verbindungen zwischen den US-amerikanischen und (Ost-)Berliner Avantgarde-Szenen aufleben und Joyce Moreno (BR), eine der Vorreiter*innen der progressiven Tradition kreativer brasilianischer Populärmusik, präsentiert in einer Live-Performance ihr bislang unveröffentlichtes und erst kürzlich als Album erschienenes Songmaterial aus den 1970er-Jahren „Natureza“.         

Geriet Moreno am Anfang ihrer Karriere als 19-Jährige, die es gewagt hatte, aus der Ich-Perspektive über das Frausein zu singen, in ihrer brasilianischen Heimat noch der Zensur der Militärdiktatur ins Visier, so steht ihre Stimme 45 Jahre später exemplarisch für die große Vielfalt origineller, unabhängiger weiblicher Stimmen in der globalen Musiklandschaft. Dass diese von der Musikgeschichtsschreibung viel zu oft überhört worden sind, stellt eine Arbeit Nancy Mounirs (EG) beim Jazzfest Berlin eindrücklich unter Beweis: Die Kairoer Multiinstrumentalistin hat sich fünf Jahre lang im Archiv auf die Spuren von selbstbestimmt lebenden Sänger*innen im liberalen Ägypten der 1920er-Jahre begeben.

Weiblich geprägt ist auch die große Bandbreite an starken musikalischen Stimmen der jüngeren Generation im diesjährigen Programm, darunter die Trompeterin und Jazz-Avantgardistin Steph Richards (CA), das Kollektiv Irreversible Entanglements mit Spoken-Word-Künstlerin Camae Ayewa (US) alias Moor Mother, die Gitarristin Mary Halvorson (US) mit der Pianistin und Komponistin Sylvie Courvoisier (CH) sowie die von Joshua Abrams ins Leben gerufene Natural Information Society (US) in einem Chicago-Feature unter dem Titel „Sonic Dreams: Chicago“ u. a. mit Mike Reeds (US) The Separatist Party und Bitchin Bajas (US). Weiterhin im Programm vertreten sind nicht nur zwei der interessantesten aufstrebenden Freejazz-Saxofonistinnen der aktuellen internationalen Musiklandschaft – die im ländlichen Tennessee aufgewachsene Zoh Amba (US) und die aus Buenos Aires stammende Wahlberlinerin Camila Nebbia –, sondern auch  drei der spannendsten frei improvisierenden Pianistinnen Europas mit ihren jeweils eigenen Projekten: Marta Warelis (PL) und Marlies Debacker (BE) und Kaja Draksler (SI) mit der Deutschlandpremiere ihres neuen Projekts „matter 100“. Die Komponistin Ellen Arkbro (SE) und der Pianist Johan Graden zeigen sich mit ihrem aktuellen Kollaborationsprojekt von einer tief melancholischen Seite und die in den Niederlanden lebende Komponistin, Sängerin und Kontrabassistin Fuensanta (MX) trägt mit ihrem Ensamble Grande zeitgenössisch gebrochene Echos auf die traditionellen Klänge ihrer mexikanischen Heimat nach Berlin. Für die kreative Energie einer neuen Generation von Musiker*innen aus Norwegen stehen im diesjährigen Programm der Klarinettist Andreas Røysum (NO) und die Saxofonistin Marthe Lea (NO). Und die französische Pianistin Eve Risser (FR) präsentiert mit ihrem Red Desert Orchestra, das sich musikalisch im transkulturellen Raum zwischen Europa und Afrika verortet, das beeindruckende Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit Musik aus Westafrika.

Das Konzertprogramm findet neben dem Haus der Berliner Festspiele auch in den nahe gelegenen Spielstätten A-Trane, Quasimodo und in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche statt, die ihre Tore für das Projekt „Ghosted“ von einem australisch-schwedischen Trio unter der Leitung von Oren Ambarchi (AU) öffnet. Dank der Partnerschaft mit den ARD-Hörfunkanstalten und Deutschlandradio sind die Konzerte live oder zeitversetzt auch deutschlandweit im Radio zu hören. Weitere Einblicke und Informationen zu den Künstler*innen sowie Beiträge zum Thema „(Un-)Learning Jazz“ erhalten Sie in unserem diesjährigen Online-Story-Format (Veröffentlichung am 4. Oktober).

Internationale Größen treffen in sieben exklusiven künstlerischen Begegnungen auf die Avantgarde der Berliner Jazz-Szene, in gleich zehn Projekten aus der ganzen Welt ertönt die menschliche Stimme in all ihrer Vielfalt und auch dieses Jahr sind wieder zahlreiche Uraufführungen und Deutschlandpremieren sowie spannende Künstler*innen-Gespräche und Filmbeiträge zu erleben. Wir freuen uns auf Sie!