Das Verhältnis von Kunst und Kritik ist von jeher angespannt. Von Goethe kennt man aus dem 18. Jahrhundert das plakative Zitat: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!“ Virginia Woolf benennt Anfang des 20. Jahrhundert ihr Unbehagen an Kritik schon genauer, und wünscht sich eine andere: „Hätte hinter dem ziellosen Gewehrfeuer der Presse der Autor das Gefühl, es gebe doch noch eine andere Art von Kritik, die Meinung von Menschen, die lesen aus Liebe zum Lesen, langsam und nicht berufsmäßig, und die mit großer Sympathie und doch mit großer Strenge urteilen, könnte dies nicht die Qualität seiner Arbeit erhöhen?“
Die Liebe zur Kunst beanspruchen beide Seiten für sich, die Kunstschaffenden und ihre Kritiker*innen. Aber die Meinungen darüber, was das konkret für Kritik bedeutet, gehen weit auseinander. Es hat mit Liebe zu tun, aber auch mit Kränkungen, Kunst-Freiheit, Macht. Davon zeugen nicht zuletzt die Geschehnisse am Staatstheater Hannover vergangenes Jahr, wo der damalige Ballettchef Marco Goecke in einer Pause nach kurzer verbaler Auseinandersetzung der ihm verhassten Tanzkritikerin der FAZ den Kot seines Dackels ins Gesicht rieb, den er in einem Beutel dabei hatte. Der Choreograf hat einen Preis dafür gezahlt, seinen Gefühlen freien Lauf gelassen zu haben. Er wurde suspendiert, entlassen, bekam Hausverbot. Diese Geschichte ist Ausgangspunkt der diesjährigen Inszenierung „Die Hundekot-Attacke“ des Theaterhauses Jena.
Was kann man tun, um das feindlich-symbiotische Verhältnis von Theater und Kritik in ein neues Licht zu stellen? Ich finde: unterschiedliche Perspektiven auf Theaterkritik zeigen. Deswegen gibt es mehrere Gastbeiträge dazu in dieser Ausgabe: Claude de Demo, Schauspielerin am Berliner Ensemble, schreibt aus der Perspektive einer Schauspielerin über ihre Wahrnehmung von Theaterkritik. Jette Steckel, dieses Jahr zum Theatertreffen mit ihrer Inszenierung von „Die Vaterlosen“ eingeladen, schaut mit dem Blick einer Regisseurin darauf. Und wie erleben es Autor*Innen, wenn über ihr Stück geschrieben und geurteilt wird, möglicherweise nicht mal in seiner Ursprungsfassung? Davon erzählt uns Nis-Momme Stockmann, wenn er zum Redaktionsbesuch kommt.
Natürlich spielt für Theaterkritik auch eine Rolle, wie sich ihre Bedingungen verändert haben. Zeitungs-Auflagen sinken, Kultursendungen laufen seltener, werden finanziell schlechter ausgestattet und in die späten Abendstunden verlegt. Onlineseiten müssen sich irgendwie finanzieren, und natürlich spielt es eine Rolle, von wem das Geld kommt. Zusätzlich werden jedes Interesse, aber auch jeder Verlust an Interesse durch technische Möglichkeiten messbar. Einen Einblick in ihren Redaktionsalltag gewähren uns bei ihrem Besuch zwei Mitglieder des Online-Theaterfeuilletons nachtkritik.de und Simon Strauß, Theaterkritiker bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Zu guter Letzt: Natürlich spielt eine Rolle, wer Theater kritisiert. Daher wäre es noch schöner gewesen, Nachwuchsjournalisten und -Journalistinnen aus der ganzen Welt einladen zu können. Aus der Realität finanzieller Möglichkeiten ergibt sich eine aus Europa schauende Perspektive. Aber immerhin und schaut mal her. Unsere Kritiker*innen haben auch schon unterschiedliche Sichtweisen: mit Blick aus der Schweiz, aus Österreich, aus Ostdeutschland, aus dem angelsächsischen Raum, mit bosnisch-deutscher Perspektive. Wie cool wird das bitte, sie zweieinhalb Wochen über ihre Sicht auf die Theater-Welt berichten zu lassen? Verpflichtet dem Publikum, den Leser*innen und der Kunst. Aber mit geschärftem Blick dafür, was Theatermachern und Macherinnen wichtig ist, mit denen sie ja ihre Liebe zum Theater teilen. Und mit guten Argumenten für ihre ästhetischen Urteile.