Ein Theatertreffen-Banner befindet sich inmitten von Bäumen und Gebäuden.

Eröffnung Theatertreffen 2023

© Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn

Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?

Antworten, Überlegungen und neue Fragen

In der Konzeption der diesjährigen Festivalausgabe spielte die Frage „Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?“ eine besondere Rolle. Dieser Digital Guide soll – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den Antworten, Perspektiven und Überlegungen von jungen Kulturschaffenden Raum geben, die das Theatertreffen 2023 im Rahmen der Formate Internationales Forum und Theatertreffen-Blog besucht und begleitet haben.

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Das menschliche Konzept des Privilegs

Die Perspektive des Orts

Luke Casserly

Der multidisziplinäre Performancemacher Luke Casserly kommt aus dem irischen Longford. In seiner Arbeit verbinden sich Umweltrecherche, dokumentarisches Material, Klangkunst und Orte zu einer Methode, Raum für neue Möglichkeiten zwischen Live-Performance und materieller Landschaft zu eröffnen. Bisher führten seine Projekte das Publikum durch urbane Straßen, Gärten und Bahnhöfe, an einen Strand und in ein Moor mitten in Irland. Als Resultat seiner Arbeiten entstand ein Netzwerk von Wildblumenwiesen in ganz Irland („1000 Miniature Meadows“, 2020) und 1000 heimische Bäume wurden im irischen Binnenland gepflanzt („Root“, 2021). Luke Casserly wählt als Ausgangspunkt seiner Arbeit häufig autobiografisches Material und versucht damit, neue Arten des Austauschs über die Auswirkung menschlichen Verhaltens auf die Umwelt zu ermöglichen.

Luke Casserly wurde kürzlich für den Norman Houston Multi-disciplinary Commissioning Award von Solas Nua in Washington, DC ausgewählt. Er hat einen BA-Abschluss in Drama and Theater Studies vom Trinity College in Dublin und ist Associate Director des Pan Pan Theatre.

Luke Casserly

Luke Casserly

© Ellius Grace

Über den Autor

Von Luke Casserly

Es ist wichtig, die eigenen Privilegien zu akzeptieren. Diese Akzeptanz ermöglicht es uns, besser zu verstehen und wahrzunehmen, wer wir sind, und eine gerechtere und transparentere Gesellschaft zu schaffen. Wie viele andere Menschen genieße auch ich diverse Privilegien, die auf Faktoren außerhalb meiner Kontrolle basieren. Ich bin männlich, weiß, stamme aus der unteren Mittelschicht im ländlichen Irland. Ich könnte über jedes dieser spezifischen Privilegien sprechen und darüber, wie sie meine Lebensrealität geprägt haben. Allerdings glaube ich, dass Privilegien sich nicht nur auf die menschliche Erfahrung beschränken lassen. Ich denke in letzter Zeit viel über die Landschaft nach, in der ich aufgewachsen bin und die in den vergangenen 20 Jahren extrem unter der Torfgewinnungsindustrie gelitten hat. Der seit vielen Jahren andauernde, ständige Abbau von Torf hat die Artenvielfalt dort auf irreversible Weise beschädigt. Deshalb betrachte ich unsere menschliche Beziehung zu Privilegien aus der Perspektive des Orts. Uns als Menschen ist das Privileg inne, sprechen zu können. Wir haben eine Stimme. Wenn jemand misshandelt oder verletzt wird, gibt es die Möglichkeit, darüber zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass das aufhört. Unsere Landschaften haben dieses Privileg nicht; sie bleiben stumm und ohne Stimme, oftmals über Jahrhunderte der Bedrängnis. In dieser Neutralität kennen unsere Landschaften das menschliche Konzept des Privilegs nicht – sie haben kein Geschlecht, keinen sozialen Status, keine sexuelle Orientierung. In ihrem „Nicht-Wissen“ heben sie das Konzept des Privilegs gewissermaßen auf. Ich finde, die Frage des Privilegs gehört zu den wichtigsten Themen, derer wir uns bewusst werden und über die wir in unserer Gesellschaft diskutieren müssen. Aber ich glaube auch, dass wir viel lernen könnten, wenn wir zu unseren physischen Landschaften zurückkehren und hören, was sie zu sagen haben oder zur Diskussion beitragen könnten.

Auf einer flachen Erdlandschaft mit wenigen Pfützen sind die Spuren von Maschinen zu erkennen.

Moorlandschaft in Longford, Irland

© Luke Casserly

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Das Privileg, nicht zu wissen

Ein Hinterfragen der Palette

Laura Kutkaitė

Laura Kutkaitė

Laura Kutkaitė

© Elena Krukonyte

Laura Kutkaitė, geboren 1993, ist eine litauische Theaterregisseurin. Sie schloss ein Studium der Choreografie und Philosophie ab und studierte anschließend Regie an der Litauischen Akademie für Musik und Theater. Ihre erste Arbeit am Litauischen Nationaltheater war „The Silence of the Sirens“. Darin verband sie Mythologie mit dokumentarischen Geschichten von Schauspielerinnen, die während kreativer Prozesse missbraucht wurden. Für dieses Stück erhielt sie den Hauptpreis bei Fast Forward – Europäisches Festival für junge Regie im Jahr 2022.

Laura Kutkaitė setzt ihre Stimme für die Themenkreise Körper, Gender, soziale Ausgrenzung und Identitätskontrolle ein. Sie begreift den Feminismus als intellektuelle Verpflichtung und so wird jede Arbeit zum Versuch, die Stellschrauben des Patriarchats zu lockern und Frauen zu ermächtigen. Sie schätzt Verletzlichkeit und konzentriert ihr Interesse auf den kreativen Prozess: Oft bringt sie interne Abläufe auf die Bühne und verwischt damit absichtlich die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation.

Derzeit arbeitet sie an Stücken für das Litauische Nationaltheater und das Staatsschauspiel Dresden.

Über die Autorin

Von Laura Kutkaitė

Ich habe gemeinsam mit Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, nicht nur aus den darstellenden Künsten, an verschiedenen Workshops teilgenommen – und in einem Monat mehr über das Theater gelernt als in der Zeit, in der ich selbst im Theater war oder es studiert habe. Das Theater sind die Menschen. Es ist eine Tatsache – und jetzt folgt eine unpopuläre Meinung –, dass das Inszenieren oder Spielen immer häufiger als nichts weiter als ein Beruf angesehen wird, dass man im Theater immer mehr (gesunde) Abgrenzungen vornimmt. Wir glauben, dass wir das tun, um dem Missbrauch zu entgehen – aber was, wenn wir am Ende nur uns selbst entgehen?

Diese Frage und alle möglichen Antworten darauf hängen für mich eng mit der Frage „Wer hat das Privileg, nicht zu wissen?“ zusammen. Mein erster, anarchischer Instinkt wäre zu sagen: „Na, wer denn?“, aber schon wenige Sekunden später tut es mir leid. Ich denke an ein Interview mit mir, das die Überschrift trug: „Ich will nicht wissen können“. Diese Frage ist eine sehr persönliche für mich, und in diesen schwierigen Zeiten zugleich so universell. Nicht wissen zu können bedeutet Freiheit für mich. Keine klaren Gegensätze zu kennen und sich tiefer auf das Theater einzulassen, anstatt Regeln dafür aufzustellen. Ich empfinde es als Freiheit, über kreative Prozesse nachzudenken und über das Privileg der Regieführenden, nicht zu wissen. Schauspieler*innen zu finden, die es mir gestatten, nicht zu wissen, ist sehr, sehr schön. Ich wünsche mir, dass alle das Privileg haben, nicht zu wissen.

Das ist eine Utopie. Unsere harte, gegenwärtige Realität gestattet uns das Nicht-Wissen nicht und wird dies auch in Zukunft nicht tun. Aber ist es dasselbe, nicht zu wissen und wissentlich ignorant zu sein? Wir haben Russlands Krieg gegen die Ukraine, wir haben den Klimawandel, um nur einige Themen zu nennen. Es ist unmöglich, unwissend zu bleiben; egal, ob man eine Einzelperson ist oder eine Institution wie ein Theater.

Es gibt immer mehr Inszenierungen über die Themen, die ich gerade genannt habe. Man darf nicht innehalten und darüber nachdenken, wie leicht und modisch das ist. Jedes Theater macht eine Aufführung über jedes Thema, das man abhaken möchte. Das lässt mich manchmal denken, dass es besser wäre, ignorant zu sein. Lieber ignorant als oberflächlich. In schwierigen Zeiten, wo wir uns fragen müssen, ob das Theater konkret dazu fähig ist, unsere Umwelt zu verändern und zu beeinflussen (Und hört mit dieser alten Rhetorik über die Seele auf. Ja, es geht um die Seele, aber wir brauchen auch etwas weniger Abstraktes), machen wir altmodische und missbräuchliche Zirkusshows und setzen ihnen nur sehr zeitgenössische Masken auf. Irgendwie sind wir nicht ehrlich genug, einfach laut zu schreien, dass wir es nicht wissen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Wir können das tun, was wir für das Beste halten und wir werden versuchen zu tun, was wir für das Beste halten, aber im Kern wissen wir nicht, was wir tun sollen. 

Zuzugeben, dass man es nicht weiß, bedeutet, sich verletzlich zu machen. Ohne Verletzlichkeit gibt es keinen authentischen zwischenmenschlichen Kontakt, kein authentisches Theater. Ich lese derzeit ein Buch über weibliches Begehren und darin heißt es: „Wenn man sich verletzlich fühlt, kommt man in Versuchung, sich gegen diese Verletzlichkeit zu stemmen – es ist die Vorstellung, sich so abzuhärten, dass uns nichts verletzen kann. Das bedeutet aber, dass uns auch nichts berühren kann.“ Fußnote 1Für mich ist das Theater im Grunde wie Sex: Wir wissen nie, was bei einer sexuellen Erfahrung passieren oder wie es uns damit gehen wird, ganz egal, was wir vorher schon einmal getan oder gemocht haben. Und das ist die Kraft des Theaters. Wenn uns also die Welt um uns herum dazu auffordert, Gegensätze klar zu sehen – können wir dann bitte dem Theater das Nicht-Wissen lassen? Nicht-Wissen als ein Hinterfragen der Palette? Das würde ich sehr gerne diskutieren, wenn es beim Theatertreffen die Gelegenheit dazu geben sollte. Bis dahin riskiere ich es, nicht zu wissen.

Unterschiedliche Poster zum Ukrainekrieg hängen im Oberen Foyer der Berliner Festspiele.

Posterausstellung „War on Distance“ beim Theatertreffen 2023

© Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn

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Privilegien-Diskurs als Zombie

Lieber würde ich die Frage zurückgeben

Frederik Müller

Frederik Müller ist multidisziplinärer Künstler zwischen Bühne, Text und Video. Er arbeitet mit unterschiedlichen Medien zu Radical Trans Feminism, Girl Culture, Queer Marxism und Britney Spears. Zusammen mit Banafshe Hourmazdi und Golschan Ahmad Haschemi war er von 2013 bis 2019 Teil des Performancekollektivs Technocandy. Seit 2017 schreibt er für das Missy Magazine.

2021 war Frederik Müller Stipendiat der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und arbeitete an seinem Roman „Heaven’s“ im Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren. 2023 hatte sein Stück „Livename“ am Chawwerusch Theater (Herxheim) Premiere. Außerdem tourt er zusammen mit Rotte Nomi mit der Arbeit „Der deutschen Mutter“.

Er studierte Regie für Theater an der Akademie für darstellende Kunst Baden-Württemberg (Abschluss mit dem Bachelor 2015) und besuchte die Ausbildung Politisk Scenkonst Utbildning am Teater Tribunalen in Stockholm von 2013 bis 2014.
Mehr Informationen gibt es auf seiner Website

Frederik Müller

Frederik Müller

© Rotte Nomi

Über den Autor

Von Frederik Müller

Ich empfinde die Frage, wie ich zu der Frage nach dem Nicht-Wissen als Privileg stünde, als Falltür – sie lädt wolfslächelnd die identitätspolitisch bewegte Feministin dazu ein, zum hundertsten Mal zu erklären, was mit Begriffen wie Privileg und Wissen gemeint ist. Die brave Feministin erklärt. Sie erklärt Dominanzkultur, Herrschaftswissen, Community. Doch die in Anführungszeichen hervorgehobene Frage ist nicht die eigentliche Frage – die eigentliche Frage ist, wie ich dazu stehe. Hier öffnet sich die Falltür für die Feministin. Sie hat sich verausgabt, emotional reguliert, intellektuell herabgedimmt, die eigene künstlerische Brillanz verleugnet und dafür den Basiskurs Antidiskriminierung gegeben. Sie steht zu nichts mehr, sie stürzt hinab.

Die Frage vor der Frage, also die eigentliche Frage, richtet sich an den, der sie beantworten kann. An den, den es nichts kostet, dazu so oder so zu stehen. An den, der nicht existenziell involviert ist. An den, dem es egal ist, ob er weiß (ist) oder nicht.

Der mit dieser Frage heraufbeschworene Diskurs ist ein Wiedergänger.

2012 beispielsweise, vor zehn Jahren, gründete sich die Gruppe Bühnenwatch als Reaktion auf resistente Rassist*innen an Berliner Theatern. Blackfacing, rassistische Sprache, die Weigerung, Schwarze Künstler*innen einzustellen usw. Prominentes Gründungsmitglied war Sharon Dodua Otoo. Damals gab es auch schon das Abwehr-Gejaule der Rassist*innen, einerseits wüsste man ja nicht, dass es rassistisch sei, sich als Schwarzen Menschen anzumalen, andererseits könne man es nicht anders machen, da man nicht von Schwarzen Schauspieler*innen wisse, die selbst Schwarze Menschen spielen könnten, usw. usw. Die ganze Debatte lässt sich hier nicht abbilden, außerdem hat sie sich auch in den folgenden Jahren noch x-mal wiederholt und war zugleich im Jahr 2012 schon greis.

Ich nenne das Beispiel, um den Privilegien-Diskurs in der deutschsprachigen Theaterwelt zeitlich einzuordnen. Er ist ein Zombie. Von Anfang an tot, wandelt er weiter unter uns. Man ist als politische*r Künstler*in damit konfrontiert, dass die Mehrheit eine*n solange mit Klauen und Zähnen bekämpft, bis sie sich eine*n einverleibt.

Dass diese Frage eine Bewerbungsanforderung für das Internationale Forum 2023 ist,Information 1 bringt mich also auf das Thema der Sichtbarkeit. Vom Aktivismus in die Hochkultur sind unsere Diskussionen gerutscht – haben sie uns dabei mitgenommen? Wenn ich von uns schreibe, meine ich unterschiedliche Personenkreise, gesellschaftliche Gruppen, skurrile Marginale, die wir gemeinsam haben, von der Kulturindustrie auf eine bestimmte Art und Weise, dabei systematisch, eingeordnet zu werden.

Hypervisibility ist, was Schwarze Künstler*innen aller Gender und transgender Künstler*innen aller Positionierungen (weiß, Schwarz, PoC, jüdisch, ...) gemein haben. All eyes on you, aber deinen Namen merken sie sich nicht. All eyes on you, aber in den Credits tauchst du nicht auf. All eyes on you, aber wenn jemand zuschlägt, haben sie alle weggesehen. Was soll ich darauf antworten? Lieber würde ich die Frage zurückgeben. Warum wurde sie gestellt? Von wem? Etc.

Mehr zum Thema Privileg lesen

Im Theatertreffen-Blog reflektiert Klaudia Lagozinski über die Zugänglichkeit der Veranstaltungen für ein breites Publikum, Anastasia M. E. Gornizki schildert ihre Eindrücke von der siebenstündigen Eröffnungsnacht, Günther Mailand denkt über das Kapital durch Kultur und die Kultur durch Kapital nach und Antigone Akgün stellt die grundsätzliche Frage: Was machen wir hier als Kulturjournalist*innen?

ZumTheatertreffen-Blog

Publikum befindet sich inmitten von Bäumen vor der lila beleuchteten Außenwand der Berliner Festspiele.

Eröffnung Theatertreffen 2023

© Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn

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Die Abwesenheit einer Antwort

Die Schwelle des Wissens

Tyler Cunningham

Der Performancemacher und Autor Tyler Cunningham, geboren 1996, lebt und arbeitet derzeit im Rahmen eines Fulbright Forschungsstipendiums in Stuttgart. Seine Arbeit durchdenkt die Zwischenräume zwischen Kunstwerk und Kunstgriff und in seinen aktuellen Projekten nutzt er Machine Learning dazu, die spekulativen Welten zu ermessen, die durch die omnipräsenten Lücken in der Geschichte ermöglicht werden. Im Besonderen sucht er nach seinem verschollenen Vorfahren Abraham Alter.

Seine Projekte wurden bisher von den beiden Kollektiven PROMPTUS und NEL2R präsentiert, die er mitgegründet hat; zuletzt im Rahmen des Projekts „the machines that hold us“ bei The Music Gallery und als Artist-in-Residence bei Critical Mass: A Centre for Contemporary Art. Außerdem verfasst er Performancekritiken und Essays für Refuze Review, Peripheral Review und CultureBot.

Tyler Cunningham studierte an der Juilliard School, wo er den John Erskine Prize für wissenschaftliche und künstlerische Leistungen erhielt. Er unternahm Graduiertenforschung an der University of Toronto und arbeitet derzeit an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart.

Tyler Cunningham

Tyler Cunningham

© Nicholas Kotoulas

Über den Autor

Von Tyler Cunningham

Ganz klar: Ignoranz ist der Dünger, aus dem die Mittäter*innenschaft sprießt. Der Mythos der „Reinheit“ oder eines Bewusstseins, in dem man „keine Ethnizität sieht“ und irgendwie objektiv und ahistorisch existiert, basiert auf Unwissen darüber, wie kulturelle Voreingenommenheit und inter-generationelles Wissen, oft in Gestalt von Trauma, im Wesen von Einzelpersonen und Institutionen verankert sind. Wenn jemand nicht darüber nachdenken will oder kann, wie diese kulturellen und historischen Narrative Vorurteile über Ethnizität, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Teilhabe, sozio-ökonomischen Status und viele weitere Faktoren prägen, dann liegt es höchstwahrscheinlich daran, dass diese Person es nicht muss: und das ist eine privilegierte Position.

Wenn es aber Raum für diese Möglichkeit geben sollte, dann wäre es fahrlässig, das Konzept des „Nicht-Wissens“ immer gleich dem „Privileg“ zuzuordnen. Fehlende Archive, vergessene Geschichten, vertriebene Familienmitglieder ohne Dokumente: Welches Weltbild verdient in diesem Archiv eine privilegierte Position? Mein Urgroßonkel Abraham Alter wurde 1909 im polnischen Sokolow Podlaski geboren. Sein Vater und seine Schwester emigrierten wegen der zunehmenden antisemitischen Pogrome in ihrer Heimat im Jahr 1920 in die Vereinigten Staaten; Abraham, sein Bruder Jeremiah und seine Mutter Lena wanderten 1923 über Ellis Island nach Amerika ein. Soweit wir es aus seinen Einwanderungsunterlagen nachvollziehen können, hatte Abraham eine geistige Behinderung und wurde in einem Dokument, das auf eine medizinische Verzögerung hinwies, als „schwachsinnig“ bezeichnet. Abraham wurde die Einreise in die Vereinigten Staaten nicht erlaubt und er wurde im Alter von 14 Jahren nach Polen deportiert. Glücklicherweise begleitete Jeremiah ihn; ihre Mutter blieb in den USA. Jeremiah kehrte zwei Jahre später zurück und ließ Abraham bei seinem Onkel Meilech Alter. Wir fanden Unterlagen, die den Tod von Meilech Alter und seiner übrigen Familie 13 Jahre später im Vernichtungslager Chelmno belegen. Aber bisher fanden wir keinerlei Sterbeunterlagen über Abraham oder irgendwelche Hinweise darauf, dass er seinen Onkel während dieser 13 Jahre irgendwann verlassen haben könnte. Uns bleibt nur ein einziges Foto von ihm.

Jedes Mal, wenn ich dieses Foto von Abraham betrachte, kommt es mir vor, als wüsste ich weniger über ihn. Ich fühle mit Orpheus, der sich nach Eurydike umsah, um sicherzugehen, dass sie ihm auf dem Weg aus der Unterwelt folgte, und mitansehen musste, wie sie sich vor seinen Augen auflöste: Genauso geht es mir, wenn ich Abrahams Foto ansehe. Ist es ein Privileg, nicht zu wissen, was mit Abraham geschehen ist? Ist es eine intergenerationelle Form der Belastung, oder gar ein Trauma? Vielleicht sollen diese Fragen rhetorisch und offen bleiben.

Leere Stühle und Tische stehen vor einem Schild mit der Aufschrift „Responsiblity Treffen“.

Theatertreffen 2023

© Berliner Festspiele, Foto: Fabian Schellhorn

Zu den Formaten

Beim Internationalen Forum kommen internationale Künstler*innen im Rahmen des Stipendienprogramms zusammen, um gemeinsam Kunst zu schauen und an der Zukunft des Theaters zu arbeiten. Kritisch begleitet wird das Theatertreffen von den Autor*innen und Theaterbegeisterten des Theatertreffen-Blog. Ein herzliches Dankeschön allen Beteiligten für die Mitarbeit an diesem Digital Guide.