Zwei Personen stehen auf einer Treppe und verschränken ihre Hände in der Luft.

Burning Issues

© Rebecca Rütten

Plattform bieten:

Burning Issues

Darstellende Künste & Gerechtigkeit: Stimmen laut werden lassen

Am Eröffnungswochenende des Theatertreffen am 7. Mai und 8. Mai 2022 findet die Konferenz BURNING ISSUES x Theatertreffen2018 von Nicola Bramkamp und Lisa Jopt gegründet, setzt sich die Konferenz seit Jahren für mehr (Gender-)Gerechtigkeit in den Darstellenden Künsten ein. In Vorträgen, Diskussionen und Workshops liegt der Fokus in diesem Jahr auf der Möglichkeit einer Transformation des Theaters. Die Konferenz will sich inhaltlich hin zu einer globaler gefassten Gerechtigkeit öffnen und Hierarchien u. a. auf ihre patriarchale, rassistische und koloniale Prägung überprüfen. Die diesjährige Ausgabe von BURNING ISSUES x Theatertreffen ist kuratiert von Nora Amin, Nicola Bramkamp, Yvonne Büdenhölzer, Lisan Lantin, Anna-Katharina Müller, Luca Sonnen und Lucien Strauch. in Kooperation mit dem ITI – Internationales Theaterinstitut Zentrum Deutschland – erstmals in den Räumen der Akademie der Künste am Pariser Platz und erneut nach der Ausgabe im Theatertreffen 2019 im Haus der Berliner Festspiele statt. 

Dieser Digital Guide soll als Erweiterung und Vertiefung für Themen dienen, die in der Konferenz eine Rolle spielen. Wir befinden uns in einer Zeit der Veränderung. Es entsteht der Eindruck, dass sich der schwerfällige Theaterbetrieb in Bewegung gesetzt hat. In der Konferenz und in diesem Guide wird versucht – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einige dieser „BURNING ISSUES“ einzufangen und verschiedene Stimmen laut werden zu lassen.

Frontalansicht von sitzenden Menschen im Publikum. Fast jede Person hebt ihre Hand.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

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BURNING ISSUES x Theatertreffen 2022

Let’s talk about Power!

Selten wird am Theater über Führung gesprochen; Instrumente zu Personalentwicklung, strukturierte Feedback-Gespräche, gemeinsame Workshops etc. werden noch immer häufig belächelt und wenig ernst genommen. Viele Theater-Intendant*innen sind in Fragen des Managements Autodidakt*innen, ihre Berufung begründet sich vor allem durch künstlerische Exzellenz.

Die Entscheidungsträger*innen selbst sehen sich in ihrer Arbeit großem Druck und einer hohen Erwartungshaltung von vielen Seiten ausgesetzt: von Kulturpolitik, Publikum, Mitarbeitenden und meist auch von sich selbst. Durch diesen Druck stellen sich brennende Fragen, wie: Was bedeutet moderne Führung und was ist eigentlich „gute Führung”? Welche Skills braucht es dafür und vor allem: Wen? Was bedeutet es, ein Theater- oder Produktionshaus im 21. Jahrhundert zu leiten? Wie sind Konflikte zu lösen, muss dieser permanente Druck wirklich sein und wie geht man als Führungsperson damit um – ohne sich dabei selbst zu verlieren?

 

Dabei finden auch die Debatte um Fälle von Machtmissbrauch und ihre Konsequenzen sowie der in diesem Zusammenhang vieldiskutierte Begriff der „Cancel Culture“ hier Berücksichtigung. Was genau ist Machtmissbrauch und wie erkennen wir den Missbrauch hierarchischer Abhängigkeitsverhältnisse am Theater in seinen unzähligen Ausprägungen? Und wie verhält es sich mit der „Cancel Culture“, übertreibt es die Kultur gar mit ihren Strukturveränderungen? Für die einen bezeichnet der Ausdruck das längst überfällige konsequente Reagieren auf Führungsversagen oder Diskriminierung, für die anderen verweist er wiederum auf die Sorge, dass auf der Basis von Verdächtigungen vorschnell berufliche Existenzen zerstört werden könnten.

Was ist gute Führung?

Der Anteil von FLINTA*FLINTA* ist ein Akronym und steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen. FLINTA* bezeichnet damit jene Menschen, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden.  in Führungspositionen ist nach wie vor erschreckend gering. Welche Maßnahmen braucht es, um mehr Diversität in leitenden Positionen zu ermöglichen? Und welche Fortbildungsangebote sollte jeder Mensch mit Personalverantwortung besuchen? Das Team von Burning Issues hat unterschiedliche Theatermacher*innen im deutschsprachigen Raum gefragt, wie Leitungspositionen in der Branche funktionieren sollten.

Dramaturgin und Leiterin des Theatertreffen

Yvonne Büdenhölzer

Autorin, Kuratorin, Dozentin und Künstlerin

Natasha A. Kelly

Kollektiv und theaterpädagogisches Team

FEELINGS

Intendantin und Dramaturgin des Theater Konstanz

Karin Becker und Meike Sasse

Dramaturgin und Mit-Initiatorin Burning Issues

Nicola Bramkamp

Theaterregisseurin

Magz Barrawasser

Yvonne Büdenhölzer ist seit 2012 Leiterin des Theatertreffens der Berliner Festspiele. 2020 erhielt sie den Berliner Frauenpreis für ihr Engagement für die Chancengleichheit am Theater. Seit 2021 ist Yvonne Büdenhölzer Präsidentin des ITI - Internationales Theaterinstitut Zentrum Deutschland.

Natasha A. Kelly ist promovierte Kommunikationswissenschaftlerin und Soziologin sowie Autorin, Kuratorin und Dozentin mit den Forschungsschwerpunkten Post-/Kolonialismus und Feminismus. Sie lehrt als Dozentin an zahlreichen privaten und staatlichen Einrichtungen, gibt eigene Workshops und engagiert sich in unterschiedlichen sozialen Projekten. Mehr @natasha.a.kelly

FEELINGS ist ein künstlerisches Kollektiv bestehend aus der*dem Theaterpädagog*in und Performancekünstler*in Jil Dreyer und dem Theaterpädagogen, Performancekünstler, Schauspieler Josef Mehling: 2019 gründeten sie gemeinsam feelings.mem und bieten als theaterpädagogisches Team verschiedene Formate in den Bereichen Performance, Theater, Medien und Games an.

Karin Becker ist Intendantin am Theater Konstanz. Von 2009 bis 2015 war sie Künstlerische Betriebsdirektorin und Stellvertretende Geschäftsführerin am Schauspiel Hannover unter der Intendanz von Lars-Ole Walburg und von November 2015 bis 2019 Künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater.

Meike Sasse ist Dramaturgin am Theater Konstanz. Nach ihrem Studium der Komparatistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft (TFM) an der Universität Wien folgten Stationen am Volkstheater Wien, Schauspielhaus Zürich, Theater Regensburg und Theater Oberhausen. Aktuell ist sie neben ihrer Arbeit als Dramaturgin Beauftragte für Diversitätsdiskurs und -entwicklung am Theater Konstanz.

Nicola Bramkamp ist künstlerische Leiterin und Gründerin der Initiative SAVE THE WORLD, Initiatorin der Konferenz BURNING ISSUES und lehrt an unterschiedlichen Hochschulen wie am Mozarteum Salzburg, der Hochschule für Bildenden Kunst, Hamburg sowie an der ZHDK.

Magz Barrawasser ist freiberufliche Theaterregisseurin und theaterpädagogische Netzwerkerin. Neben der Leitung von Theaterworkshops inszenierte sie in der freien Szene sowie Gastspiele als auch Eigenproduktionen am Hessischen Landestheater Marburg und am Schauspiel Essen.

„Ungleichheit ist kein Naturereignis. Ungleichheit ist nicht abstrakt, sie ist ideologisch und politisch gemacht! Es kommt in der Geschichte ganz entscheidend auf Ideen und Ideologien an. Und die sind veränderbar. Wir können bestimmen, was wir unter sozialer Gerechtigkeit, einer gerechten Wirtschaft verstehen. Es liegt in unseren Händen, und der Kampf für eine gerechte Gesellschaft ist noch lange nicht verloren. Nur: Wir müssen ihn führen! Nicht nur Meinungen bilden, sondern aktiv dafür streiten und uns einmischen.“

Volker Lösch (Theaterregisseur)

Goldene Buchstabenballons schweben in der Luft. Unter ihnen ist die Treppe eines Bühnenaufgangs, links neben ihnen ein dunkelroter Bühnenvorhang.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

Goldene Buchstabenballons schweben unter der Decke, hinter ihnen ist ein großflächiges Fenster.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

Ist Kunstfreiheit wirklich grenzenlos?

Christina Barandun

Ein […] gerne verwendeter Machthebel kreativer Führungskräfte ist die vielbeschworene Kunstfreiheit, nach dem Motto: Ein Dirigent oder eine Regisseurin darf sich im Namen der Kunstfreiheit alles erlauben: Pulte werfen, verbal angreifen, den meist negativen Emotionen freien Lauf lassen. Diese zentralen Figuren einer Produktion können ein ganzes Haus von mehreren Hundert Mitarbeiter*innen in Atem, manchmal gar in Schrecken halten. Ob „Stars“ oder nicht, den künstlerischen Führungspersonen wird viel Macht gegeben unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit. Und selbst wenn partnerschaftliches Kunstwollen als Ideal behauptet wird, gibt es im Zweifelsfall immer den einen Kunstwillen, dem letztendlich alle zu folgen haben. Denn wie sollte man die Arbeitsweise eines vermeintlichen Genies eingrenzen können?

Hier werden zwei Aspekte vermischt – das Bühnenwerk und der Proben- bzw. Schaffensprozess. Was auf der Bühne sichtbar wird, ist eine Sache. Das Werk selbst soll künstlerisch frei sein, auch wenn die Kunstfreiheit natürlich durch die anderen Grundrechte wie Unversehrtheit der Person eingeschränkt ist. Ganz anders steht es um den Schaffens- und Probenprozess. Diese künstlerische Zusammenarbeit unterliegt eindeutig dem Arbeitsschutz und seinen Bestimmungen. Und an dieser Stelle sticht die Maßgabe, dass keine psychische Gefährdung der Mitarbeiter*innen erfolgen soll. Denn der Arbeitsprozess und der Schutz der körperlichen und vor allem psychischen Gesundheit der Arbeitnehmer*innen darf auch nicht in den Kunstbetrieben ausgehebelt werden.

 

Natürlich darf und soll niemand den künstlerischen Prozess einschränken. Betrachtet man den betrieblichen Alltag, dann wird mit diesem Vorwurf einiges romantisiert. Am Ende des Tages ist Theater oder Oper ein Handwerk, nicht nur hinsichtlich Bühnenbild und Technik, sondern auch hinsichtlich der Erarbeitung von Texten oder Partituren. Dieses Handwerk erfordert klar geregelte Abläufe, zeitliche Fristen und nüchterne Anweisungen. Wenn diese nicht eingehalten oder die entsprechenden Informationen zu spät geliefert werden, wenn im letzten Moment alles verändert wird und ideenreiche Neugestaltungen in der letzten Probenwoche verlangt werden, die einen logistischen Mammutaufwand und personelle Überforderung auf der Bühne und hinter den Kulissen erfordern würden, dann wird die künstlerische Führungskraft, wie beispielweise die Regisseurin, dem Arbeitsbetrieb des Theaters, für den sie etwas kreiert, nicht gerecht. Sie setzt mit diesem Verhalten eine gesamte Organisation unter unnötigen Druck. Daher [muss] ein Bewusstsein geschaffen werden sowohl für die Verantwortung der künstlerischen Führungskräfte als auch für die Rechte und Abgrenzungsmöglichkeiten der Mitarbeiter*innen, die in das feste zeitliche und organisatorische Korsett eines Theaters eingebunden sind. *1 / Aus: Christina Barandun: Erste Hilfe für die Künstlerseele. Stressbewältigung, Kommunikation und Konfliktlösung im Kulturbetrieb. Ein Ratgeber. Alexander Verlag Berlin 2018, S. 27/28.

Christina Barandun ist Theaterwissenschaftlerin und Beraterin für betriebliches Gesundheitsmanagement in Theatern.

Machtmissbrauch am Theater

Die Basics

Eine weiblich gelesene, ältere Person mit weißem Haar sitzt zwischen Trockenblumen und brennenden Kerzen. In leuchtenden, pinken Lettern steht an der Wand hinter ihr ENSEMBLE-NETZWERK geschrieben.

Machtmissbrauch am Theater

© ensemble-netzwerk

Übertreibt es die Kultur mit der Cancel Culture?

Zwei Meinungen

Birgit Walter

Ja: Wenn ein Verdacht Karrieren vernichtet

Ende März durfte die Künstlerin Ronja Maltzahn nicht auf einer Fridays for Future-Veranstaltung auftreten, weil sie die falsche Frisur trägt. Mit ihren Dreadlocks würde sie sich eine fremde Kultur aneignen, ohne deren Unterdrückung erlebt zu haben. Kulturelle Aneignung als Vorwurf! Als würde nicht die Kultur der Welt genau darauf basieren – Musik, Mode, Architektur: alles irgendwann angeeignet. Die Ausgrenzung nimmt ausgerechnet eine Bewegung vor, die hoffen ließ, dass wenigstens sie sich auf die wesentlichen Kämpfe konzentriert.

Diese Ausladung ist ein harmloses Beispiel – Cancel Culture kann mehr, kann Karrieren vernichten. Der Interimsintendant der Volksbühne Klaus Dörr trat zurück, nachdem ihn die taz als übergriffigen Sexisten diffamiert hatte. Nicht, weil er Vorwürfe einräumte, sondern um sich einer Schlammschlacht zu entziehen. Zu den Vorwürfen von sieben Mitarbeiterinnen des 270-köpfigen Ensembles zählten „Vergehen“ wie Anstarren, Handküsse und Hand auf den Arm legen. Ein grenzwertiger Spruch soll, wenn überhaupt, sieben Jahre zuvor auf einer Feier gefallen sein. Den einzigen strafbaren Vorwurf des Upskirtings, das Unter-den-Rock-Fotografieren, musste die taz nach einer einstweiligen Verfügung unterlassen – sie hatte nichts als ihre absurde Behauptung. Anwälte des Kultursenators hatten überdies bestätigt, dass die Vorwürfe gegen Dörr nicht mal für eine Abmahnung reichten.

Doch das Jagdfieber der taz war nicht zu bremsen. Sie vermittelte zugleich ein unerträgliches Frauenbild. Denn die „Übergriffe“ passierten ja nicht in einem stalinistischen Erziehungsheim, sondern an einer stolzen Bühne, berühmt für ungenierte Tabu-Brüche. Und diese Frauen konnten einfache Sätze nicht formulieren, wie: Chef, keine Hand auf meine Schulter! Auch die Frauenbeauftragte konnte nichts ausrichten, da brauchte es die taz?

Der Skandal um die Staatliche Ballettschule begann 2020 mit einem anonymen Dossier, das angeblich unhaltbare Zustände an der Schule anprangerte, darunter nachweislich Lügen. Daraufhin sendete die rbb-Abendschau einen Beitrag über angeblich skandalösen Leistungszwang. Zeugin war ausgerechnet eine Lehrerin, die nach Alkoholvorfällen die Schule verlassen hatte. Unter dem medialen Druck sprach die damalige Bildungssenatorin den beiden Leitern der Schule Hausverbote aus – nach 17 Jahren erfolgreicher Arbeit, ohne die Vorwürfe zu prüfen. Trotz intensiver Suche wurde bis heute nichts gefunden, was den Rausschmiss rechtfertigte. Die Geschassten gewannen alle Arbeitsrechtsprozesse, beziehen seit mehr als zwei Jahren Gehalt, ohne arbeiten zu dürfen. Was blieb, ist der Eindruck: Diese Schule muss schrecklich gewesen sein.

Ob der Comedian Luke Mockridge seine Freundin „beinahe vergewaltigt“ hat, so der veröffentlichte Vorwurf, wissen nur zwei Menschen – die, die dabei waren. Der Spiegel breitete ihn trotzdem groß aus, befeuerte ungeniert die Instagram-Debatte. Mockridge ist nicht das einzige Cancel-Opfer, das man anschließend in der Psychiatrie traf. Dabei war die Presse bei dem Thema gewarnt durch die Vergewaltigungs-Lüge über den Wetter-Moderator Jörg Kachelmann.

In allen Fällen kritisieren Gerichte die Verdachtsberichte der Presse, welche das hohe Rechtsgut der Unschuldsvermutung missachtete. Sie übernahm alle Justiz-Aufgaben gleichzeitig: Ermittlung, Anklage, Verurteilung, verunglimpfte Persönlichkeiten öffentlich mit unbewiesenen Behauptungen. Das Recht schützt Mörder und Missbrauchs-Täterinnen, Namen und Fotos dürfen vor einem Schuldspruch nicht veröffentlicht werden. Aber was sind schwere Verbrechen gegen ungebetene Handküsse? Leser lieben solche Geschichten, lesen, klicken, zahlen. Doch Journalistinnen müssen schon hart gesotten sein, wenn sie für die eigene Karriere das Ende einer anderen in Kauf nehmen. Und wie geht es bei solchen Empörungstexten eigentlich den tatsächlichen Opfern von Vergewaltigung und Missbrauch, die nicht berühmt sind, für die sich keiner einsetzt?

Antigone Akgün

Nein: Über wen wird wieder gesprochen?

Cancel Culture – ein gefürchteter Begriff, ein politisches Schlagwort, das die Etablierung einer gängigen Praxis, einer neuen Kulturform suggeriert. „Wo soll das bloß hinführen, außer in das Ende einer Fehlerfreundlichkeit und in die gezielte Ausmerzung einzelner Karrieren?“, melden sich Kritiker*innen aufgebracht zu Wort. Und wie können vermeintliche „Fauxpas privater Natur“ überhaupt aussagekräftig für das Arbeitsethos einer Person sein?

 

Auffällig ist jedenfalls, dass viel häufiger von Cancel Culture gesprochen wird, seitdem sich das Spektrum zur gesellschaftlichen Partizipation und Mitsprache erweitert: Noch vor einigen Jahren, als subalterne Menschen kaum eine Möglichkeit hatten, zu Wort zu kommen und sie – etwa als Gastarbeitende oder Geflüchtete markiert – in ausbeutenden Arbeitsstrukturen zur ausnahmslosen Dankbarkeit gebeten wurden, schienen die Fassaden vieler Leitungspositionen makellos. Das ändert sich nunmehr, gerade auch, weil die medialen Werkzeuge, um mit der eigenen Position sichtbar zu werden, sich vermehren. Je weitgefächerter der Chor an Stimmen ist, der sich zu einem Thema äußert, desto differenzierter wird auch der Blick darauf.

Was lange okay war – zum Beispiel rassistische Darstellungsformen in der Kunst – und unhinterfragt zur Kenntnis genommen wurde, ist nicht mehr akzeptabel, weil – um bei dem Beispiel zu bleiben – von Rassismus betroffene Menschen daran gearbeitet haben, das etablierte historische Bewusstsein und den damit einhergehenden eurozentrischen Blick kritisch auf seine Leerstellen und Ausschlussmechanismen zu befragen. Es gibt folglich eine Fülle an Wissen: die Buchhandlungen reichlich bestückt, Workshopangebote in immer größerer Zahl und Grundinformationen zu vielen Diskursen sogar in wenigen Sekunden abrufbar.

Wer sich also für diskriminierende Arbeits- und/oder Darstellungsformen entscheidet, hat sich entweder – aus Bequemlichkeit, ja sei es sogar Ahnungslosigkeit heraus – nicht genügend informiert oder eben bewusst ignoriert, was andere Menschen verletzt. Für gewöhnlich enden Karrieren aber nicht mit einem einmaligen Fehlverhalten. Und auch die Presse wird nicht gleich informiert, sobald etwas Übergriffiges passiert. Wer Gegenteiliges behauptet, scheint zu übersehen, unter welchem psychischen wie physischen Druck von Diskriminierung betroffene Menschen stehen – sie brauchen lange, um überhaupt zu sprechen, versuchen es mit Fehlerfreundlichkeit oder Duldung der Übergriffe, leben in Angst um den eigenen Jobverlust, suchen Beratung in nächster Umgebung, bei Gleichstellungsbeauftragten, Diversitätsreferent*innen und natürlich auch bei Personen mit „Leitungsfunktion“. Der Erwähnung in der Presse geht augenscheinlich ein langer Weg mit zahlreichen Gesprächsangeboten voraus. Überhaupt bedeutet die mediale Beschäftigung mit problematischen Verhaltensmustern einer Person nicht gleich das Ende ihrer Karrierelaufbahn: Ebenso zahlreich sind die Fälle, in denen eine ehrliche Entschuldigung und Beschäftigung mit dem eigenen Arbeitsstil zu einem Karriereneustart führten.

Aber mit Verlaub – wie oft fiel in diesem kurzen Text das Wort Karriere? Wieso geht es eigentlich wieder um den Schutz der Übergriffigen? Was ist die Cancel-Culture-Debatte eigentlich anderes als eine Bestätigung dessen, dass sich strukturell wenig getan hat und sich diskriminierte Menschen auch weiterhin damit beschäftigen müssen, was, wann und vor allem wie sie sprechen können, um die Verursacher*innen ihrer Verletzungen ja nicht karrieretechnisch zu gefährden?

Birgit Walter ist freie Autorin. Nach ihrem Journalistikstudium arbeitete sie mehr als 30 Jahre als Redakteurin im Feuilleton der Berliner Zeitung. Sie erhielt den Theodor-Wolff-Preis und den Journalistenpreis des Deutschen Kulturrates.

Antigone Akgün ist freischaffende Performerin, Autorin und Dramaturgin. Seit 2017 ist sie Jurorin beim Theatertreffen der Jugend der Berliner Festspiele und übernimmt 2022 gemeinsam mit Ozi Ozar die Konzeption und Redaktion des Theatertreffen-Blogs.

Die Burning Issues-Gründerinnen Nicola Bramkamp und Lisa Jopt vor dem Rednerpult.

Nicola Bramkamp und Lisa Jopt bei Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

Frontalansicht auf eine beleuchtete Bühne. Auf der Bühne stehen zwei weiblich gelesene Personen. Hinter ihnen ist auf einer Leinwand „TT Burning Issues 2019“ projiziert. Flankiert wird die Bühne von goldenen Buchstabenballons, die die Wörter „Burning Issues“ bilden. Im Auditorium sitzt Publikum.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Eike Walkenhorst

Viele Menschen sitzen vor einer Leinwand und beobachten mit gespanntem Ausdruck das Gezeigte. Auf der Leinwand ist eine weiblich gelesene Person zu sehen. Das Setting auf der Leinwand erinnert an eine Interviewsituation. Hinter dem Publikum ist goldenes Lametta zu erkennen.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Piero Chiussi

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BURNING ISSUES x Theatertreffen 2022

Was wird hier gespielt? – Über einen zeitgenössischen Umgang mit dem Kanon

Was wäre ein Theaterspielplan ohne die Klassiker „Faust“, „Die Räuber“, „Maria Stuart“ oder, „Hamlet“ ...? Würde weniger Publikum kommen? Würden die Abonnent*innen fern bleiben, die Schulklassen den Ausflug ins Theater, den Ort der Hochkultur, von nun an meiden? Und: Welche Stoffe und Texte würden bleiben? Geht es wirklich darum, den sogenannten deutschen Kanon nie wieder zu zeigen, ihn wegzuradieren oder darum, ihn zu überschreiben, neu zu denken und umzuschreiben?

Bei all diesen Fragen gelangt man früher oder später zu dem Diskurs um kulturelle Identität; Zu der Frage nach dem, was eine „Nation“ zusammenhält, welche Geschichten über Jahrhunderte erzählt wurden und welches Bewusstsein, welche Identität, sich daraus gebildet hat. Die Überlegung, wer sich diese Stoffe vor vielen Jahren ausgedacht hat, lässt sich dabei schnell beantworten: Weiße gebildete Männer.

Besonders in einer jüngeren Generation von Dramatiker*innen lässt sich das Bedürfnis erkennen, gegen den Kanon anzuschreiben, ihn umzustülpen und kritisch aus heutiger Perspektive zu hinterfragen. Dabei sind diese Versuche und Ansätze so vielfältig, wie die Blickwinkel der Autor*innen selbst. Und dieses diverse Bild von Sichtweisen spiegelt die Diversität unserer heutigen Gesellschaft endlich ein wenig wider.

Zwei weiblich gelesene Personen mit Schnurrbart und ausdrucksstarker Schminke.

Burning Issues

© Rebecca Rütten

Warum Peer?

Maria Milisavljević

Warum wieder „Peer Gynt“? Warum nicht Neues, etwas Diverseres, etwas Mutigeres, etwas noch nicht Gehabtes? Diese Autorin nörgelt rum, obwohl doch alles ziemlich gut läuft:

Mir wird mein größter Auftrag bisher angeboten. Endlich: ein Theatertext für die große Bühne. Das kommt selten daher, für mich als junge Autorin, mit meinen fast vierzig Jahren und über zwanzig Bühnenjahren. Endlich der erste Auftrag für die große, die ganz große Bühne. Da werden 500 Leute im Zuschauerraum sitzen. Ich bin pragmatisch und deswegen heißt das, wenn alles gut läuft – also wenn frau mal die Pandemie als freundlich gesinnt sieht und auch davon ausgeht, dass alles am Haus glatt läuft und der Text, wie geplant, mehr als zehn Mal gespielt wird (was bei neuen Texten ja selten der Fall ist) – dann bedeutet diese „500“, dass da nochmal Tantiemen in guter vierstelliger Höhe reinkommen könnten. Das heißt also: a) ich hätte zum ersten Mal einen Auftrag, der anerkennt, dass ich von dem Ganzen ja leben muss und b) es geht nach der PandemieKurzer Exkurs: Wir Theaterautor*innen sind die einzigen, die von den Kartenverkäufen der Theater unseren Lebensunterhalt bestreiten, also die einzigen, deren Gehalt sich direkt aus den Kartenverkäufen ergibt. Wer das noch nicht wusste, fand es schmerzlich in der Pandemie heraus. Daher: Danke an das Schauspiel Frankfurt und das GRIPS Theater, die als einzige Theater Tantiemenausfälle in voller Höhe zahlten, und nicht, wie andere Häuser, baten, dass die Kartenkäufer*innen die schon gekaufte Karte doch nicht zurückgeben, um das Geld dann als Spende ans Haus zu verbuchen. Das Ganze war dann eben eine Spende und davon muss theater keine Tantiemen zahlen, versteht sich. endlich weiter  .

Es flatterte nun also mein erster großer Auftrag herein: große Bühne und ein Gehalt, von dem ich auch meine Rechnungen zahlen können sollte. Aber wie kam es dazu? Das Haus hatte entschieden, dass schon zu viele Männer im SpielplanAcht Autoren standen vier Autorinnen gegenüber; wobei die Texte der anderen drei Dramatikerinnen allesamt auf der kleinen Bühne angesetzt waren. vertreten waren und als die Regie den „Peer Gynt“ vorschlug, war klar, es solle eine Überschreibung geben. Von einer Frau. Und Peer, die solle auch eine Frau sein. Die Hommage an Herrn Ibsen, die blieb. Und ich bleibe bei der Antwort, die ich einem älteren Herrn im Publikumsgespräch später geben sollte, als er fragte, wozu es noch eine Überarbeitung von einem Ibsen-Text bräuchte: „Wären Sie denn ins Theater gekommen, wenn MILISAVLJEVIĆ auf der großen Bühne gespielt würde?“ Nein, und ins Studio zu den experimentellen, postmigrantisch klingenden Geschichten gehen Sie ja auch nicht. Also, was soll ich machen? Damit Sie mir zuhören?

Wir nehmen also den Ibsen und wir quetschen aus ihm raus, was uns an Dingen, die wir sagen wollen, wichtig ist. Das hab ich schon mal gemacht, und mir mit dem „Volksfeind“ in Ostkanada etwas Ärger mit einem Ölguru namens Irving eingefangen, da das Stück dann eben um Fracking ging, wie er es in der Gegend gern macht – dumm nur, dass ihm das Theater gehörte, in dem gespielt wurde. Also musste umgeschrieben werden und Öl nicht erwähnt werden, dafür Gold. Okay, dann eben Goldminen, die das Wasser der nahegelegenen Reservation verschmutzen. Die Message kam trotzdem rüber. Herr Ibsen – denn wieder: wer hätte in Ostkanada eine MILISAVLJEVIĆ sehen wollen? – hatte seine Dienste getan.

 

Und das tat er auch bei „Peer Gynt (she/her)“, indem wir uns einer dezidiert feministischen Aufarbeitung des Textes verschrieben. Ich schrieb ins Programmheft: „In diesem Sinne ist diese Überschreibung des Urtexts nicht nur davon geprägt, dass Frauen in Männerrollen treten und umgekehrt – sei es Peer, ein Ingo statt eine Ingrid oder eine Trollkönigin, sondern auch darin, dass sich genau mit diesem Griff die Thematiken des Stücks wandeln. Themen wie soziale Rollen, Fürsorge oder Generationskonflikte verhandeln sich anders. Der Urtext sieht in Aase zwar die sorgende Mutter, nicht aber die komplexe Fürsorgestruktur, der sie sich als Alleinerziehende all die Jahre stellen musste. Peers Vater Jon wird als Säufer beschrieben, der sich tot soff, aber er tritt nicht auf, hat keine Wirkung, außer die, dass die finanzielle Stütze fehlt. Seine Sorgen und Nöte bleiben im Urtext unerwähnt. So sitzt auch Solveig bei Ibsen wartend bis ans bittere Ende, alt und treu. Ihr Zweck ist es, Peer Absolution zu erteilen. Ibsen lässt sie auf Peer warten, weil sie es einmal versprach. ‚Warten und an jemanden denken sind zwei sehr unterschiedliche Dinge, Peer‘, sagt Solveig jedoch hier. Dabei geht es nicht nur darum, Figuren neu zu denken und gegeneinander zu verhandelt, sondern auch in die Tiefe zu schauen, um ihre Beweggründe, Haltungen und Gefühle sichtbar zu machen und damit die gesellschaftlichen Strukturen, die zugrunde liegen.“

Dezidiert feministisch, damit war gemeint: von der Fürsorge, von den Schwächsten aus gedacht. Das ist dieser „Peer“ vielleicht, aber intersektional?

Ja, ich schreibe gern so gesamtgesellschaftlich und divers, wie es meine Perspektive zulässt (das ist, zugegebenermaßen, nicht so divers, wie es die deutschsprachigen Bühnen eigentlich bräuchten). Das läuft dann eher auf kleineren Bühnen und bestimmt nicht öfter als zehn Mal. Und ich schreibe auch gern einfach mal nur frauenlastig. Das heißt nur Frauen auf der Bühne. Oder zumindest im Text, denn das läuft dann so: „Ganz genial, die Hälfte wird mit Männern besetzt. Eine Rolle ist raus, aber als Ausgleich haben wir eine ältere Spielerin gefunden, die als Gast kommen könnte“. Denn dieses Schauspielhaus, mit einem der größten Ensembles Deutschlands, hatte natürlich keine Spielerin über 50 parat, vielleicht auch über 45 nicht. Denn ab 40 ist frau ja schon als Oma gebucht. Zumindest wurde neulich eine 60-Jährige in meinem Stück „alt“ besetzt mit einer Frau, die ein Jahr früher als ich geboren wurde. Aber das ist das Schicksal der Spielerinnen. Als Dramatikerin bin ich mit 40 super jung und darf mich freuen, endlich auf der großen Bühne gespielt zu werden, wenn auch nicht wirklich unter meinem eigenen Namen. Beschweren will ich mich nicht, denn die Rechnungen sind bezahlt.

Maria Milisavljević ist Theaterautorin, freie Dramaturgin und Übersetzerin. Sie ist Mitbegründerin der theaterautor*innen-netzwerks.

Eine weiblich gelesene Person mit rotem Cowboyhut und bunter sowie gemusterter Kleidung hockt auf einer Bar. Sie reißt ihre Hand senkrecht nach oben und schwingt rote dünne Kabel in die Luft.

Burning Issues

© Rebecca Rütten

Eine Person mit einer Perücke aus langen Lametta-Fäden sitz hockend auf einem Stuhl. Energisch schwingt sie den Kopf zur Seite.

Anica Happich für Burning Issues

© Rebecca Rütten

Vier Personen posieren mit einem Tüllumhang, einer Pflanze und mit einer Discokugel. Über ihnen befindet sich ein Bühnenbild-Element, das eine gelbe greifende Hand mit langen roten Fingernägeln darstellt.

Burning Issues

© Rebecca Rütten

Von Herzenswünschen, Solidarität und neuen Möglichkeiten

Katja Brunner

Katja Brunner spricht über Solidarität unter weiblich gelesenen Personen und über die Fragen, wie laut ihr feministisches Herz schlägt und was sie sich von einer Debatte wünscht, die sich mit dem Kanon beschäftigt. Jetzt anhören

ZumTranskript (PDF, 109 KB)

Katja Brunner ist Dramatikerin und Performerin. Neben eigenen Stücken arbeitet Brunner kontinuierlich mit dem Theaterautorinnenkollektiv „Institut für chauvinistische Weiterbildung“ und schreibt Essays für Zeitungen und Magazine.

Zwei weiblich gelesene Personen lehnen mit ihren Oberkörpern auf einem Podest und halten sich an ihren Händen fest. Um ihre Köpfe sind bunte Bänder und Schnüre gebunden.

Burning Issues

© Rebecca Rütten

Archivarbeit im Wandel

Anna-Katharina Müller im Gespräch mit Sara Örtel

Anna-Katharina Müller: Liebe Sara, wer bist du und was ist dein Aufgabenbereich in der Akademie der Künste?

Sara Örtel: Ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Darstellende Kunst des Archivs der Akademie der Künste, Berlin und dort für den Arbeitsbereich Inszenierungsdokumentation zuständig. Anders als bei den Personenbeständen, die einen Schwerpunkt des Archivprofils bilden und häufig erst als Nachlass übergeben werden, sind die Inszenierungsdokumentationen enger mit der Gegenwart verknüpft: Es ist eine kuratierte Sammlung, für die eine schriftliche Dokumentation der Proben vereinbart und Material angefragt wird – und das bereits vor Probenstart, nur anhand des Stücktitels und des Regieteams. Dabei versuchen wir, dass im besten Falle aus dem Team heraus dokumentiert wird, weil jede externe Person die Intimität des geschützten Probenraums gefährden kann.

Wie kommt ihr zur Entscheidung, was dokumentiert werden soll?

Die Auswahl treffe ich zusammen mit der Abteilungsleitung und im Austausch mit Mitgliedern der Sektion Darstellende Kunst. Das Budget lässt pro Spielzeit acht bis zehn Inszenierungsdokumentationen zu. Selbst unter dem Credo, die Sammlung repräsentativ und exemplarisch zu führen, sind das sehr wenige Dokumentationen für den deutschsprachigen Raum. Deswegen legen wir einen Sammlungsschwerpunkt auf Regiehandschriften. Es geht darum, Arbeitsmethoden festzuhalten oder eine spezielle Ästhetik, die die Theaterlandschaft prägt, und zu beschreiben, wie diese im Probenprozess entsteht.

 

Es klingt für mich wie eine Art Scouting: vorausschauend auszumachen, was sind die Trends der Gegenwart, und gleichzeitig eine mögliche Vorhersage für die Zukunft zu treffen.

Es ist eigentlich schon ein Ding der Unmöglichkeit, alles zu kennen, alles zu wissen, alles vorherzusehen. Das Gute ist: Das Archiv arbeitet mit Zeit. Da wir ohnehin nie das gesamte Werk eines*einer Regisseur*in erfassen können, sondern maximal zwei bis drei exemplarische Inszenierungen, hat man zumindest einige Jahre, um eine spezielle Regiehandschrift zu dokumentieren. Im besten Fall spiegeln sich Trends aber immer auch in den Arbeitsweisen wider und sind dadurch in der Sammlung abgebildet.

Ich vermute, dass, wenn man in die Historie des Archivs schaut, es vor allem aus weißen männlich gelesenen Regisseuren besteht. Inwieweit reagiert ihr auf aktuelle Forderungen und Strukturveränderungen?

Ich bin seit 2018 an der Akademie der Künste und es sind bisher wirklich wenige Regisseurinnen, die in der Sammlung vertreten sind – die Mehrheit der Regieführenden ist weiß und männlich. Das liegt zum einen daran, dass gerade vor der Wende bis auf wenige Ausnahmen (Ruth Berghaus war beispielsweise eine) Regisseure – da muss ich gar nicht gendern – die Theaterlandschaft geprägt haben und es ein Sammlungsansatz war, deren Karriere dokumentarisch zu verfolgen. Da sind wir inzwischen zu einem Umdenken gekommen: weniger Dokumentationen der Arbeit eines*einer Regisseurs*in, sondern dafür ein größeres Spektrum an Handschriften von unterschiedlichen Künstler*innen – hier jetzt bewusst inklusiv gegendert. Mir ist es ein Anliegen, dass die Sammlung die Diversität der aktuellen Theaterlandschaft spiegelt und zeigt, wie unterschiedlich im Theater gearbeitet wird. Aber – und das ist jetzt das große Aber – es geht natürlich bei einem so überschaubaren Ausschnitt an künstlerischen Arbeiten auch darum, Dokumentationen anzustreben, die in einigen Jahren noch interessant sind und darstellende Künstler*innen zu begleiten, die sich etablieren.

Würdest du sagen, dass der klassische ur-deutsche oder ur-europäische Kanon gerade etwas zur Seite gedrängt wird durch die Gegenwartsdramatik?

Ich glaube, in Bezug aufs Theater ist das eher eine Frage der Interpretationen als der Stoffe an sich. Für die Sammlung war Gegenwartsdramatik schon immer von Interesse, da sich darin virulente Themen und der Zeitgeist spiegeln. Klassikerinszenierungen sind und bleiben für die Sammlung aber ebenfalls interessant, weil sich diese über Dekaden hinweg vergleichen lassen. Wie einzelne Figuren oder der Stoff an sich gelesen werden, ist extrem abhängig davon, in welcher Gegenwart wir uns befinden. Deshalb sagen Klassikerinterpretationen auch viel über das jeweilige Zeitgeschehen aus. Bei Uraufführungen hingegen ist die Nachspielrate immer noch sehr gering, da entstehen weniger Querbezüge zu anderen Dokumentationen.

Wenn du versuchst, in die Zukunft zu blicken: Glaubst du, dass sich für eure Archivarbeit und für Archivierung im Allgemeinen etwas verändern wird?

Ich glaube, dass wir aus dem Wissen heraus, dass Theater verschiedene Künste vereint, bereits gute Ansätze getroffen haben, beispielsweise Bühnenbildbestände zu den entsprechenden Regiebeständen ins Archiv zu holen, weil das Bühnenbild im Regietheater eine entscheidende Arbeitsgrundlage bildet oder ein Gegengewicht für die Regie ist. In Zukunft sind solche Zusammenhänge noch viel größer zu denken. Finden Inszenierungen auch in Zukunft noch auf der Bühne statt? Oder hat sich unser Begriff davon, was eine Bühne ist, geändert? Auch das Verhältnis von Theater und Digitalität wird uns beschäftigen und die Frage, welche Akteur*innen das Theater in Zukunft prägen. Es ist ein Vorteil der Inszenierungsdokumentation, nahe dran zu sein. Dabei sagt der Arbeitsprozess immer auch etwas über das Verständnis von Theater, über unsere Zeit und über aktuelle Machtverhältnisse aus. Es ist wichtig, offen zu bleiben und mitzudenken, dass Theater eine Gemeinschaftsarbeit von verschiedenen Künstler*innen ist. Es ist eine kollaborative Kunstform.

Sara Örtel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Künste Berlin. Sie ist Gründungsmitglied des Frankfurter Performance-Kollektivs Arty Chock und war von 2014 bis 2018 als Dramaturgin am Deutschen Theater Göttingen tätig.

„Diese Ausgabe von Burning Issues brennt weiter, bis der Wandel vollzogen ist. Sie zerfällt nicht schnell zu Asche und wird nicht von neuen Moden des Diskurses überschattet. Denn Gerechtigkeit kann auch ein Mittel sein, unsere Kräfte zu sammeln und eine gemeinsame Vision zu etablieren, anstatt unsere Versuche zu zerstreuen und zu fragmentieren. Gerechtigkeit kann unser Weg zu lokalem, regionalem und transnationalem Fortschritt in allen Bereichen der darstellenden Künste sein.“

Nora Amin (Tänzerin, Choreografin und Autorin)

Eine weibliche gelesene Person mit Armfehlbildung wird von einer männlich gelesenen Person unter den Achselhöhlen gehalten. Er scheint ihr Körpergewicht zu tragen. Hinter ihnen ist ein roter Bühnenvorhang sowie drei Musiker mit Instrumenten zu erkennen.

© Un-Label; Workshops und Proben; Foto: MEYER ORIGINALS

Eine weiblich gelesene Person hält eine Krücke in die Luft.

© Un-Label; Symposium ALL-IN; Foto: MEYER ORIGINALS

Zwei weiblich gelesene Personen sitzen nebeneinander. Beide tragen große Kopfhörer. Die rechte Person weist optisch körperliche Beeinträchtigungen auf.

© Un-Label; Performative Multimedia-Installation „Re:construction”;

Foto: Lucie Ella Photography

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BURNING ISSUES x Theatertreffen 2022

Eine Bühne für alle – Inklusive Besetzungspolitik

Wer macht eigentlich Theater und für wen? Wessen Geschichten werden erzählt, welche Lebensrealitäten werden sichtbar und wer hat überhaupt Zugang zu den altehrwürdigen Räumlichkeiten und wem ist dieser Zugang verwehrt? Diese Fragen stellen sich drängend in Bezug auf strukturelle ableistische Diskrimierung, die auch am Theater immer noch und immer wieder passiert. Bauliche Strukturen, keine Dolmetschung in Gebärdensprache, Internetseiten, die nicht barrierefrei sind und und und … die Liste ist lang.

Natürlich geht es auch darum, unterrepräsentierte Perspektiven auf der Bühne sichtbar zu machen, die Sehgewohnheiten zu verändern, den Barriereabbau voranzutreiben, inklusive Zugänge auf und vor und hinter der Bühne zu ermöglichen und Theater zu Orten werden zu lassen, an denen die Geschichten vieler verschiedener Menschen mit vielen verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Aber führt der Weg nicht noch weit über Barrierefreiheit hinaus? Ist das Ziel nicht auch Mitbestimmung in Leitungsstrukturen und Inklusion in allen Bereichen des künstlerischen Schaffens?

10 Punkte für den Weg zu einem inklusiveren Theater

Lisette Reuter

Barrieren in den Köpfen abbauen
Es herrscht in der Theaterlandschaft Unsicherheit und Unkenntnis, was Inklusion in Bezug auf Menschen mit Behinderung bedeutet und welche Potenziale damit verbunden sind. Das Mindset von Kulturinstitutionen muss sich also grundlegend verändern und Menschen mit Behinderung müssen als Kulturnutzer*innen und Akteur*innen erkannt und anerkannt werden.

Wertschätzung von Unterschieden
Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, sich als Künstler*innen in einer Welt auszudrücken, in der Unterschiede als wertvoll angesehen werden. Das bedeutet für das Theater, dass wir die etablierten Konzepte von Körper, Raum und Gesellschaft hinterfragen müssen, um damit eine Erweiterung der tradierten Kriterien in der zeitgenössischen Kultur zu ermöglichen.

Diversitätsorientierte Organisationsentwicklung
Dafür braucht es eine Verstetigung barrierefreier Angebote in Kunst und Kultur und eine umfassende, diversitätsorientierte Organisationsentwicklung in Theatern, um die Kulturlandschaft strukturell und nachhaltig inklusiv zu verändern. Denn schließlich sind inklusive Zugänge ein Mehrwert für das gesamte Publikum und die gesamte Struktur des Kulturbetriebs.

Kunst als Brückenfunktion
Kunst und Kultur zeigen die Diskurse der Gesellschaft auf, hier werden Visionen einer zukünftigen Gesellschaft entwickelt. Kunst und Kultur haben somit immer eine Vorbildfunktion und die hier entwickelten Prozesse sind auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragbar. Es ist also gerade im Kulturbereich eine politische und gesellschaftliche Aufgabe, Stigmatisierungen abzubauen und dafür zu sorgen, dass Kunst- und Kultur für alle zugänglich ist.

Sichtbarkeit
Dafür brauchen wir die Sichtbarkeit von bisher unterrepräsentierten Künstler*innen mit einzigartigen Erfahrungen und Perspektiven, denn sie produzieren neue und einzigartige Kunst. Dadurch werden inklusive Erfahrungen und spannendere künstlerische Ergebnisse für ein breites Publikum realisiert, die zum Perspektivwechsel anregen, die für die Entwicklung einer demokratischen, vielfältigen Gesellschaft wichtig sind und die wiederum die Relevanz von Kultur in unseren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen stärken. Kultur muss barrierefrei gesehen und gestaltet werden und von der Perspektive der Menschen mit Behinderung lernen, um ein neues Bild einer diversitären Gesellschaft zu schaffen.

Umsetzung der Menschenrechte
Gesellschaft und Politik haben es die letzten Jahrzehnte größtenteils versäumt, Kunst und Kultur für Menschen mit Behinderung zugänglich zu machen. Ein Blick auf die Statistiken zeigt, dass ca. 19 Prozent *„Disability statistics – prevalence and demographics“, durchgeführt von Eurostat der europäischen Bevölkerung eine Behinderung haben, wir reden also von einer sehr großen Bevölkerungsgruppe. Menschen mit Behinderung werden strukturell (nicht nur im Kulturbereich) besonders diskriminiert und benachteiligt und haben noch immer nicht dieselben Partizipationschancen – und das, obwohl zum Beispiel das Recht der Teilhabe am kulturellen Leben schon 1948 in Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert worden ist. Es wird also eine sehr große Gruppe an Menschen in der Diversitätsdebatte im Kulturbereich außer Acht gelassen. Die Politik muss hier ihrer Verpflichtung nachkommen und ernsthaft mit der Umsetzung der bereits 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention beginnen. Die Umsetzung der UN-BRK und der geltenden deutschen Rechtslage darf also nicht mehr auf Freiwilligkeit und individuellem Engagement von Theatermacher*innen basieren, sondern sie muss strukturell und flächendeckend passieren und durch – von der Politik festgeschriebene verpflichtende Maßnahmen und Regularien – von Theatern umgesetzt werden.

Mut zur Erweiterung des künstlerischen Vokabulars
Mittel der Barrierefreiheit müssen zu künstlerischem Vokabular werden und ihre Anwendung zur Inspirationsquelle für Kunst und Kultur. Neben der Entwicklung von multisensorischen Ansätzen muss Theater auch einen kreativen Umgang mit klassischen Hilfsmitteln der Barrierefreiheit selbst finden. Audiodeskription, Gebärdensprache oder Untertitelung müssen kreativ im Kunstwerk mitgedacht werden. Sie werden also von ihrer Funktionalität gelöst und verwandeln sich in künstlerische Elemente, die für die Ästhetik und Dramaturgie des Kunstwerks wesentlich sind. Aus dem Werk heraus motiviert gehen sie von Anfang an eine ästhetische Einheit ein – also kein „Add-On“ oder eine „Übersetzung“, sondern als Werkzeuge des künstlerischen Ausdrucks. Dadurch werden für Werk und Prozess neue Qualitäten hinzuzugewonnen, die für jede Inszenierung ganz neue kreative Impulse liefern und für Künstler*innen nachhaltig den Blick auf kreative Prozesse verändern.

Es braucht Qualifizierung und Budgets
Die meisten Kultureinrichtungen wollen nicht wirklich aktiv eine Gruppe von Menschen ausschließen und sind sich ihrer politischen und gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Es liegt also nicht am mangelnden guten Willen, sondern an fehlendem Wissen, an mangelnder Erfahrung und an fehlenden Ressourcen. Hier braucht es Sensibilisierung und Qualifizierung der Mitarbeiter*innen, zusätzliche finanzielle Förderung, Umschichtung von Budgets von großen Kulturinstitutionen. Und es braucht die Anerkennung von Barrierefreiheitskosten als notwendige Voraussetzung für Chancengleichheit durch Politik und Förder*innen. Denn es wird immer offensichtlicher, dass exklusive Kulturprogramme ein Legitimationsproblem haben, weil sie wichtige Gruppen der Gesellschaft nicht ansprechen.

Veränderung von Ausbildung und Rahmenbedingungen
Große Theater sagen oft, dass sie ja gerne Künstler*innen mit Behinderung in die Ensembles aufnehmen würden, aber es keine Künstler*innen auf dem Markt gibt, die ausgebildet und willens sind. Da es im Bereich Tanz und Theater kaum staatliche Ausbildungsmöglichkeiten gibt, die zugänglich für Menschen mit Behinderung sind, wird sich an dieser Stelle im Kreis gedreht. Die Ausbildungsinstitutionen müssen sich also öffnen und ihre Curricula anpassen. Aber auch Theater müssen die Rahmenbedingungen und Aufnahmebedingungen verändern, damit Kulturschaffende mit Behinderung motiviert und befähigt werden, in diesen Kulturinstitutionen zu arbeiten.

GRUNDSATZENTSCHEIDUNG
ACCESS & INKLUSION muss als MISSION getroffen, vertreten und konsequent durchgeführt werden. Theater müssen sich darüber bewusst sein, dass es sich um einen Prozess mit vielen Beteiligten handelt und man Durchhaltevermögen braucht. Es geht nicht alles von heute auf morgen und man entwickelt sein „Access-Profil“ gemeinsam.
Dafür müssen sich Theater auf dem Weg zu mehr Vielfalt und Inklusion auf allen sogenannten „P-Ebenen“ verändern: in Bezug auf ihr PERSONAL, ihr PUBLIKUM, ihre PR und PROGRAMMATISCH. Es ist also eine Querschnittsaufgabe und betrifft alle Bereiche und letztlich alle und alles. Inklusion ist keine Einbahnstraße, sondern eine Kreuzung, auf der alle Beteiligten voneinander lernen.

Lisette Reuter ist Gründerin, Geschäftsführung und künstlerische Leitung von Un-Label Performing Arts Company, www.un-label.eu.

© Eike Walkenhorst

Warum wir kein inklusives, sondern anti-ableistisches Theater brauchen

Noa Winter

Das Label „Inklusives Theater“ steht häufig für Inszenierungen oder Programme, bei denen behinderte und nichtbehinderte oder taube und hörende Darsteller*innen gemeinsam auftreten. Aber seien wir ehrlich: Bei wie vielen dieser Produktionen, Festivals oder Gruppen finden wir behinderte und taube Menschen in Macht- und Entscheidungspositionen? Wenn Sie diesen Text lesen oder hören, zählen Sie einmal nach: An wie viele Aufführungsbesuche mit behinderten und/oder tauben Künstler*innen erinnern Sie sich? Und bei wie vielen dieser Produktionen waren diese nicht nur als Darsteller*innen, sondern in Leitungspositionen besetzt?

Mit Ihren Antworten auf diese Fragen sind Sie vermutlich nicht allein. 2021 ordneten im Rahmen der Studie „Time to Act – Wie mangelndes Wissen im Kultursektor Barrieren für behinderte Künstler*innen und Zuschauer*innen schafft“Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie als PDF gibt es unter diesem Link: https://www.disabilityartsinternational.org/wp-content/uploads/2021/12/Time-to-Act-2021_Summary-GER.pdf  mehr als die Hälfte der Befragten (52 Prozent) aus dem Bereich der Darstellenden Künste ihre Kenntnisse der Arbeiten behinderter Künstler*innen als schlecht oder sehr schlecht ein. Nur 16 Prozent der Befragten gaben an, über gute bis exzellente Kenntnisse zu verfügen – und das, obwohl es von Jahr zu Jahr mehr inklusiv gelabelte Projekte gibt. Diese Schieflage möchte ich zum Anlass nehmen, um mit den folgenden sieben Punkten zu umreißen, welches Umdenken und Handeln wir brauchen, damit behinderte und taube Künstler*innen im Theaterbetrieb (sowohl auf Stadt-, Staats- und Landesebene als auch in der Freien Szene) gleichberechtigt und selbstbestimmt arbeiten können.

Machtkritik
Wir müssen beginnen, den Umstand zu hinterfragen, warum auch in inklusiven Projekten künstlerische und nicht-künstlerische Entscheidungen in aller Regel von nichtbehinderten Menschen getroffen werden. Dies machtkritisch zu reflektieren bedeutet, sich aktiv mit Ableismus auseinanderzusetzen. Ableismus beschreibt die strukturelle Diskriminierung behinderter Menschen, mit der kontinuierliche Ausschlüsse sowie eine Abwertung behinderten und tauben Lebens und Kulturschaffens einhergeht. Anti-ableistisches Theater ist immer bereits inklusiv im ursprünglichen Sinne des Wortes: Denn machtkritisches Handeln bedeutet, Strukturen zu verändern. Doch dieses Versprechen struktureller Veränderung lösen viele sogenannte inklusive Vorhaben im Theaterbetrieb aktuell nicht ein. Deswegen brauchen wir eine Neufokussierung auf anti-ableistisches Denken und Handeln, um behinderten und tauben Kulturschaffenden gerecht werden zu können.

Barrieren statt Defizite
Wir brauchen auch im Kulturbetrieb einen Perspektivwechsel vom Behindert-Sein von Einzelpersonen zu ihrem Behindert-Werden durch die Gesellschaft. Diese Einsicht verdanken wir der Behindertenrechtsbewegung der 1980er-Jahre und ist als das soziale Modell von Behinderung bekannt. Konkret bedeutet das: Ausschreibungen und Inszenierungen, die behinderte und taube Menschen auf bestimmte Merkmale reduzieren (wie zum Beispiel die Suche nach Tänzer*innen mit „nicht-normativen Körperlichkeiten“), sollten der Vergangenheit angehören. Stattdessen sollte die zentrale Aufgabe aller Akteur*innen und Institutionen der Darstellenden Künste darin bestehen, immer zu fragen, welche Barrieren behinderte und taube Menschen in den Darstellenden Künsten erfahren und wie diese abgebaut werden können.

Diverse Repräsentation
Sich auf Barrieren und strukturelle Ausschlüsse zu konzentrieren bedeutet auch, sich von dem Anspruch zu verabschieden, jeder Person ihre Behinderung von außen ansehen zu können. Beschränkt sich die Repräsentation von Behinderung auf Darsteller*innen mit körperlichen Behinderungen und entsprechenden Hilfsmitteln (zum Beispiel Krücken oder einem Rollstuhl), stellt dies nur einen kleinen Ausschnitt der Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung dar. Eine diverse Repräsentation von Behinderung umfasst eine Vielzahl gelebter Erfahrungen von Barrieren, darunter chronisch kranke oder neurodivergente Menschen (zum Beispiel Autist*innen) oder Menschen mit Lernschwierigkeiten.

Intersektionalität
Eine anti-ableistische Besetzungspolitik verabschiedet sich von dem dominanten Bild von Behinderung, das in der Regel von weißen, cis-hetero Personen mit sichtbarer körperlicher Behinderung repräsentiert wird. Denn dieses Bild reduziert Menschen und ihre Erfahrungen auf das Merkmal Behinderung. Noch viel zu häufig wird Ableismus in anderen machtkritischen Diskursen nicht reflektiert, sodass wir behinderte und taube Menschen zwar vermehrt in sogenannten inklusiven Inszenierungen und auf Panels zu Barrierefreiheit antreffen, nicht aber, wenn es beispielsweise um Anti-Rassismus, reproduktive Gerechtigkeit oder queere Lebensrealitäten und Kunstpraktiken geht. Behinderte und taube Menschen nicht bei allen Themen und in allen Bereichen (auch außerhalb der Bühne) mitzudenken heißt, entscheidende Perspektiven zu verpassen.

Besetzung in Leitungs-, Macht- und Entscheidungspositionen
Wirkliche Veränderung im Theaterbetrieb kann erst erreicht werden, wenn behinderte und taube Menschen als Expert*innen anerkannt werden. Dazu gehört, sie in Leitungspositionen zu besetzen, sodass sie von Anfang an alle künstlerischen und nichtkünstlerischen Entscheidungen mitbestimmen können. Dies reicht von der Auswahl von Themen und ästhetischen Entscheidungen bis hin zur Proben- und Programmstruktur. Da behinderte und taube Menschen häufig von traditionellen Aus- und Weiterbildungsstrukturen und formellen wie informellen Netzwerken ausgeschlossen sind, müssen wir vermehrt Räume schaffen (zum Beispiel durch Residenz-, Mentoring- und Koproduktionsprogramme), in denen behinderte und taube Menschen unter für sie barrierefreien Bedingungen eigene Arbeitspraktiken erproben können.

Anerkennung und Förderung behinderter und tauber Kultur
Die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit 2009 gilt, schreibt neben dem Zugang zu Kultur im Allgemeinen ebenso die Anerkennung der spezifischen eigenen Kulturen behinderter und tauber Menschen durch die nichtbehinderte, hörende Mehrheitsgesellschaft als Menschenrecht fest. Denn auch wenn behinderte und taube Menschen aktuell nur selten eigene künstlerische Arbeiten auf den Bühnen der Freien Szene oder der Stadt-, Staats- und Landestheater zeigen können, haben sie innerhalb ihrer Communities ein kulturelles Erbe (von barrierefreien Arbeitspraktiken bis hin zu eigenen Kunstformen) entwickelt. Es liegt also an den Akteur*innen und Institutionen der Darstellenden Künste, die Geschichte und Gegenwart behinderter und tauber Kultur kennenzulernen und die vermeintliche Überlegenheit nichtbehinderter, hörender Ästhetiken und Arbeitsweisen infrage zu stellen.

Neue Qualitätsmerkmale
Wie in allen Gesellschaftsbereichen sind auch die Bewertungs- und Förderkriterien in den Darstellenden Künsten zutiefst von einer ableistischen Körper- und Fähigkeitsnorm geprägt. Es gilt also zum einen, die eigene Rezeptionspraxis zu erweitern, zum anderen Zugangskriterien kritisch auf die Reproduktion von Ausschlüssen zu hinterfragen (zum Beispiel sind Hochschulabschlüsse oder eine bestimmte Mindestanzahl an bereits geförderten Projekten kein geeigneter Maßstab, um über die Förderwürdigkeit eines neuen künstlerischen Vorhabens zu entscheiden). Erst eine breite Kenntnis behinderter und tauber Kunst ermöglicht es uns, neue Maßstäbe künstlerischer Qualität zu definieren.

Alle hier aufgeführten Punkte vereint das Ziel, behinderten und tauben Kulturschaffenden selbstbestimmtes Arbeiten unter für sie barrierefreien Bedingungen gleichberechtigt zur nichtbehinderten, hörenden Mehrheitsgesellschaft zu ermöglichen. Sich auf einen solchen Prozess einzulassen und anti-ableistisches Denken und Handeln konsequent zu zentrieren, bedeutet auch, von dem Automatismus, jedes Erscheinen von Behinderung im Theater mit dem Inklusiv-Label zu versehen, Abstand zu nehmen.

Noa Winter arbeitet als freie Kurator*in, Dramaturg*in, Workshopleiter*in und Projektkoordinator*in, u. a. für das Projekt „Making a Difference“. Neben der Produktionsleitung unterschiedlicher Festivals lehrte sie an der Universität Mainz und promoviert aktuell zu selbstbestimmten Arbeitsweisen behinderter Künstler*innen und aesthetics of access.

Gruppenfoto der Burning Issues x Theatertreffen-Ausgabe von 2019 vor der Glasfassade des Haus der Berliner Festspiele. Die hintere Menschenreihe hält goldene Buchstabenballons in die Luft, die den Titel „BURNING ISSUES“ bilden.

Burning Issues x Theatertreffen 2019

© Piero Chiussi

Burning Issues x Theatertreffen 2022