Szenische Lesung | Stückemarkt
von Pat To Yan (Großbritannien)
Szenische Lesung
Stückemarkt III
© Pat To Yan
Ein Land steht kurz vor dem Bürgerkrieg. Zwei Generationen, zwei Städte, zwei entgegengesetzte Reisen. Während die gesamte Bevölkerung gen Süden flüchtet, kämpft sich der Außenseiter nach Norden, um einen Auftrag zu erfüllen. Zeitebenen vermischen sich. Das Stück widersetzt sich einer linearen narrativen Dramaturgie und arbeitet die grausamen Phantasmen einer gegenwärtigen Gesellschaft der Ungleichzeitigkeiten heraus, die zu jedem Rückfall in die Barbarei bereit ist.
Jurystatement
Sich an die Zukunft zu erinnern ist heute harte Arbeit. Das kann nicht ohne den Außenseiter geschehen, aber auch nicht ohne The white bone lady, die sich in alles zu verwandeln in der Lage ist, den Mann, der Zeuge von Schmerzen wird und fake memories für andere Figuren schreibt, die Katze mit Loch, ein Parteimitglied und ein unheimliches Mädchen mit noch unheimlicheren Träumen. Sie bewegen sich durch eine Region, die eher ein Durchzugsgebiet ist, eine Parade von Versehrten, die aus dem Bildfundus eines William Kentridge entstammen könnte, der wiederum in eine Art Kontaktfeuer mit Heiner Müller geraten ist und doch wie ein Psychopilz Sporen eines Anime-Films aus Kikiland oder eines Avatar-Blockbusters von sich gibt. Es ist eine Reise in Richtung Norden, zur Hauptstadt, aus der alles in die Gegenrichtung flieht. Eine Reise voller Begegnungen, die uns durch ein ästhetisches Wechselbad führt, durch ein ambivalentes Tableau voller Gerichtsszenen, Parteireden und Kriegsszenerien schickt, in denen die Mutation nur eine der wahrscheinlichsten Grundvoraussetzungen ist, um zu überleben, wie das eben in einem Setting von Gewaltherrschaft – irgendwo zwischen Postkommunismus, Postfordismus und Neokapitalismus – so sein muss. Da kann die Grenze zwischen belebt und unbelebt nur ein Vehikel des politischen Interpretationsgeschäfts sein. Genauso wie die ständige Umschrift der Erinnerungen anderer, gegen die sich die stets morphende Fabel als Counter-Story in Stellung bringt. – und: Hoppla, was war das eben? Eine Antigone spazierte durchs Bild, als wäre ihre Tragödie nicht längst vorbei. Ihr Widerstand ist eine der vielen Verlustgeschichten, die doch die Herrschaft der fake memories in diesem exemplarischen China durchkreuzt, das heute ja niemals nur China alleine sein kann. „A Concise History of Future China“ widersetzt sich einer linearen narrativen Dramaturgie und arbeitet in sehr verdichtet poetischen Verflechtungen die grausamen Phantasmen einer gegenwärtigen Gesellschaft der Ungleichzeitigkeiten heraus, die zu jedem Rückfall in die Barbarei bereit ist – ob es nun um staatlich organisierten Organraub geht oder um gedungene Mörder. Ein Stück, in dem diese Phantasmen so real klingen, die Möglichkeit des Verwechselns von Realität und Traum so naheliegend scheinen, dass uns ihre Mächtigkeit schaudern macht. Was, wenn sich diese Alpträume längst vernetzt haben und gegen unsere Zukünfte antreten?
Kathrin Röggla
Einrichtung Philipp Preuss
Dramaturgie Stephan Wetzel
Ausstattung Ramallah Aubrecht
Besetzung
Lea Draeger
Sébastien Jacobi
Aleksandar Radenković
Felix Römer
Marie-Lou Sellem