Inszenierung / Livestream | 10er Auswahl

Medea*

von Leonie Böhm

Schauspielhaus Zürich

Premiere 19. September 2020

Videotrailer © Schauspielhaus Zürich

Am Schauspielhaus Zürich arbeitet Leonie Böhm weiter an einer Poetik des Fragilen und befragt den antiken Medea-Stoff mit großen Bildern und behutsamen Gesten.

Künstler*innen-Ehrung und Nachgespräch
am 20. Mai 2021 um 21:25 Uhr

Medea, das ist im griechischen Mythos von Euripides die Königstochter, die von ihrem Mann Jason für eine andere Frau verlassen wird und sich rächt, indem sie die gemeinsamen Kinder ermordet. Die Regisseurin Leonie Böhm nutzt die Tragödie als Sprungbrett für ein radikales Bühnenexperiment: Ihre Medea* ist eine Frau der absoluten Gegenwart, die sich weigert, ein antikes Tragödienschicksal zu verkörpern, es stattdessen lieber vorsichtig von außen betrachten und befühlen möchte und ihm schließlich doch nicht entkommen kann. Maja Beckmann berührt hier als trotzige Medea-Erkunderin, der Musiker Johannes Rieder liefert dazu einen melancholisch-schrägen Soundtrack.

Theatertreffen-Juror Andreas Klaeui zur Inszenierung
Jason hat Medea in die Fremde gelockt und dann sitzenlassen, um sich selbst ein neues gutbürgerliches Leben aufzubauen. Das ist die Ausgangssituation: Medeas soziale Existenz ist ausgelöscht, sie ist an einem toten Punkt, allein und ohne jeden Halt. Das streicht Leonie Böhm in ihrer Inszenierung – im Grunde genommen ist es ein Monolog – heraus.

Die sozialen Bande sind gerissen, es gibt keinen festen Boden unter den Füßen (nur flottierende weiße Tücher im Bild von Zahava Rodrigo), das destruktive und selbstdestruktive Handeln hat seine alternativlose Eigendynamik schon in Gang gesetzt. Leonie Böhm und die Schauspielerin Maja Beckmann zeigen eine Frau im freien Fall. Insofern ist es für diese Inszenierung auch gar nicht erheblich oder interessant, auf die ungeheuren Taten am Schluss – den Mord an der neuen Frau an Jasons Seite, Glauke, den Mord an Medeas Kindern – noch einzugehen. Sie legt ihr Augenmerk vielmehr auf die Entwicklung, die diesem passage à lʼacte vorausgeht. Die Selbstermächtigung, die ihm inneliegt. Die neuen Entfaltungsmöglichkeiten, die er vielleicht schafft. Die Zürcher Medea mit dem Gendersternchen, das sie über binäre Positionierungen hinaushebt, ist eine Medea, die Christa Wolf gelesen hat und der Sigmund Freud, Jacques Lacan, Walter Benjamin zumindest nicht fremd sind. Auch wenn sie neben improvisierten Texten vor allem Euripides spricht, in der Neuübersetzung von Herbert Meier. Eine Medea auch, die den passage à lʼacte in der Auftrittssituation der Akteurin mit dem Publikum spiegelt, was natürlich vergleichsweise harmlos ist, aber dennoch einen Konfliktpunkt sehr treffend zu konkretisieren vermag. Eine Medea überhaupt der anschaulichen Bilder, zum Beispiel, wenn sie ihre Situation im Exil beschreibt als eine, deren Schlüssel als einzige plötzlich in keine Tür mehr passen. Alle Schlösser ausgetauscht, und sie hat nicht mitbekommen, wie es dazu gekommen ist.

Wie Maja Beckmann das schauspielerisch entwickelt, wie Leonie Böhm es bildhaft anlegt, wie Johannes Rieder es musikalisch spiegelt, ist atemberaubend und klug. Es versucht, den Terror nicht als unmenschliche Monstrosität von sich zu weisen, sondern ihn zu denken und so das Ungeheure, das der Mensch ist, intelligibel zu machen.

Künstlerisches Team

Leonie BöhmRegie
Zahava RodrigoBühne
Magdalena Schön, Helen SteinKostüme
Johannes RiederMusik
Helena EckertDramaturgie

Mit
Maja Beckmann
Johannes Rieder
Live-Musik

Medea von Euripides. Unter Verwendung der Übersetzungen von Herbert Meier. Die Übertragung des Aufführungsrechts erfolgt in Übereinkunft mit dem Verlag Felix Bloch Erben, Berlin. Vertretung für die Schweiz: Musikverlag und Bühnenvertrieb Zürich AG, Zürich Peter Krumme. Aufführungsrechte: Verlag der Autoren, Frankfurt am Main. Der Livestream wird unterstützt durch