Die Jury des Theatertreffen 2024: Katrin Ullmann, Martin Thomas Pesl, Eva Behrendt, Theresa Luise Gindlstrasser, Janis El-Bira, Sascha Westphal, Valeria Heintges © Stefan Wieland
Zwei Szenen aus dem vergangenen Theaterjahr. Die erste: Nach dem Schlussapplaus für die Premiere von Yael Ronens und Shlomi Shabans Musical-Requiem „Bucket List“, gute zwei Monate nach dem Massaker der Hamas in Israel, treten an der Berliner Schaubühne das Ensemble und die Musiker*innen noch einmal vor das Publikum. Einen Song möchten sie noch spielen, quasi als Zugabe. Einen, der es nicht in die Inszenierung geschafft hat. Ausgerechnet: Den Titelsong. In der Erinnerung sind Text und Musik längst vage geworden. Unauslöschlich geblieben hingegen ist dieser kurze, vierminütige Song als ein Moment geradezu innig geteilter Gegenwart zwischen Spielenden und Zuschauenden. Als ließe sich die grauenhafte Wirklichkeit draußen zwar nicht aussperren, aber hier, in dieser seltsamen Wahlgemeinschaft des Theaters, doch wenigstens ein Stück weit besser aushalten. Als seien wir, so albern und dem Beruf des Kritikers völlig unangemessen es auch klingen mag, einen schmalen Augenblick lang da füreinander.
Eine zweite Szene, mehrere Monate zuvor. In der Schiffbau-Halle des Zürcher Schauspielhauses sehen wir „Riesenhaft in Mittelerde“™. Auch so ein Gemeinschaftsabend, aber von ganz anderer Art. Die theatrale Anverwandlung des „Herr der Ringe“™-Universums ist nur auf den ersten Blick jener immersiv-spektakelhafte Mittelaltermarkt, als der er leichtfertig abgetan werden könnte. Stattdessen: Reinstes Gegenwartstheater, inklusiv und divers, mit allen Diskurswassern gewaschen – aber spielerisch und märchengläubig genug, um ein äußerst heterogenes Publikum anzuziehen, das diesen Abend konsequent zu seinem erklärt. Folgerichtig nur, dass immer wieder Fans und Verkleidete in die Vorstellungen kommen, um zum Zürcher Fantasy-Weltentwurf ihren Teil beizutragen. Man findet sich wieder in einem Raum der fluiden Identitäten und im Spiel erprobter Alteritätserfahrungen. Und wenigstens zweieinhalb Stunden lang darf man gewiss sein: Alle Geschichten, die hier erzählt werden, wollen auf einen guten Ausgang hinaus. Gemeinsam gegen das Böse.
Zwei Momente, die bildhaft stehen könnten für einen Theaterjahrgang, der immer wieder und auf unzählige verschiedene Weisen Welthaltigkeit und Gegenwart herzustellen versucht hat, ohne gleichzeitig mit der Welt und der Gegenwart identisch werden zu wollen. Das hat ihn – die vergleichsweise große Zahl der von uns Juror*innen diskutierten Arbeiten verrät es – stark gemacht, auch weit über die zehn nun zum Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen hinaus. Vielleicht – so lautet ein Gedanke der Dramatikerin Sivan Ben Yishai aus ihrer Rede anlässlich der letztjährigen Verleihung des Theaterpreises des Bundes – kommt das Theater überhaupt nur in kurzen Phasen dazu, seiner eigentlichen Bestimmung zu folgen. Also zu spielen. Dazwischen ist es Krisengeschöpf unter Krisengeschöpfen, reaktiv zur Wirklichkeit, ihr oft eher einen Schritt hinterher als voraus. Ein Wackelkandidat, der sich angesichts all der Katastrophen nervös mit der Frage nach der eigenen Daseinsberechtigung herumschlägt.
War das Theaterjahr 2023 also eine Ausnahme, weil es sich so verschwenderisch spielfreudig, so auffällig selbstbewusst ausnahm? Zumindest war es eines, das die intensiven Gegenwartsbefragungen aus der Notwendigkeit zog, sich erst einmal selbst wieder konsolidieren zu müssen. Wir erinnern uns: Noch während der gesamten zweiten Hälfte des vorvergangenen Jahres spukte als „Publikumsschwund“ ein Gespenst durch die häufig leer bleibenden Säle, das den Theatern einen besonders kalten Todeshauch ins Gesicht blies. War man entgegen aller Erwartungen nach der Pandemie tatsächlich entbehrlich geworden? Hatten die Menschen verlernt, ins Theater zu gehen? Oder war das Theater einfach nicht mehr der Ort, an dem sich die Gesellschaft über sich selbst verständigt, wie oft behauptet wird? Und war „die Gesellschaft“ überhaupt noch eine, über die sich derart grosso modo reden ließ?
Glücklicherweise reagierte das Theater auf diese Fragen trotzig, aber nicht beleidigt, wachsam, aber nicht aktionistisch. Und es setzte auf seine ureigensten Stärken, auf fantastische Spieler*innen und anschlussfähige Geschichten. Mit Weltabgewandtheit hatte und hat das erfreulich wenig zu tun. Vielmehr scheint unsere Gegenwart eingesickert zu sein in viele der zum Theatertreffen eingeladenen oder von uns in der Jury diskutierten Arbeiten. Wie etwa ließe sich nicht in Johan Simons’ zur existenzialistischen Farce ausgelegtem „Macbeth“ auch an die Klimakatastrophe denken, wenn zwischen all dem Schlachten und Morden immer wieder hochauflösende Videos von Insekten im Waldunterholz die Szene füllen? Man darf ja nicht vergessen: Die Zerstörung der Umwelt wird sich am Ende gegen den Zerstörer richten. Im Wald von Birnam, dessen Losmarschieren Macbeths Ende besiegelt, wird schließlich auch noch etwas krabbeln, wenn den Menschen die Luft zum Atmen längst weggeblieben ist.
Und wie ließe es sich nicht als Metapher auf den bröckelnden Firnis der westlichen Zivilisation lesen, wenn in Karin Beiers und Roland Schimmelpfennigs Hamburger Antiken-Zyklus „ANTHROPOLIS“ ein Stierkadaver auf der Bühne von Johannes Schütz zunehmend zum Skelett verwest? Die Götter, deren Übervater Zeus einst in Stiergestalt die Königstochter Europa entführte und vergewaltigte, sind vom Himmel geholt. Kultur, Werte und Einheit jenes Kontinents, der auf den Namen der Geraubten getauft wurde, stehen immer mehr in Frage. Im zweiten Teil des Zyklus, „Laios“, wird der titelgebende thebanische Herrscher gewissermaßen als Vorfahre Macbeths deutbar. Beiden gemein ist, dass ihnen der Orakel- beziehungsweise Hexenspruch vor allem dort etwas gelten will, wo er den eigenen Machtzugewinn vorhersagt. Deutet er hingegen auf die Katastrophe, wird er als Aberglaube weggewischt – bis die Zeichen sich tatsächlich verdichten und es auch im eigenen Kopf wahnhaft zu flackern beginnt. Was dann folgt, ist selbsterfüllende Prophezeiung. Lina Beckmann spielt jenen Laios in einem der herausragendsten unter den auffallend vielen Soli, die dieser Theaterjahrgang hervorbrachte, als ursprünglich zur Aufklärung angetretenen Untergeher. Entsetzt muss er zusehen, wie sich das Schicksal auch an ihm vollzieht.
Grenzen und blinde Flecke der Aufklärung verhandelt auch Ulrich Rasche mit seiner „Nathan der Weise“-Inszenierung von den Salzburger Festspielen. Im Rückspiegel des 7. Oktober und der neuen Welle des Antisemitismus nimmt diese Produktion sich geradezu als düsteres Menetekel aus. In Rasches Inszenierung, die sich bis auf wenige, aber wichtige Hinzunahmen anderer Texte der Aufklärung streng an Lessing hält, wird erschreckend transparent, wie selbstverständlich der antisemitische Exklusionsreflex auch unter den Philosophen der Aufklärung verbreitet war. Lessings Nathan – von Valery Tscheplanowa atemberaubend in regelrechte Ekstasen des Denkens und Argumentierens geführt – wird hier zu einem Ruhelosen, der den eigenen Geist in der Auseinandersetzung immer weiter schärft, aber beim mühevoll konstruierten Happy End dennoch außen vor bleibt, keinen Platz findet in der großen Familienaufstellung. Das ist die grimmige Anklage, die Lessing seinen Zeitgenoss*innen vorhält und die bei Ulrich Rasche inmitten der willkürlichen Grenzlinien seiner LED-Lichtwände greifbar wird: Euer Humanismus ist kein universeller, er ist ein selektiver. Gegenwärtiger kann Theater in dieser Hinsicht ja kaum sein.
Das vergangene Unverdaute, oft das Hier und Jetzt Vergiftende schwappt auch in Falk Richters „The Silence“, Gisèle Viennes „Extra Life“ und Rieke Süßkows „ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM“ an die Oberfläche, um die hiesigen Verhältnisse zu stören. In Süßkows Werner-Schwab-Inszenierung darf man die Sache mit der Verdauung ruhig wörtlich nehmen: Das „Fäkaliendrama“ im Wirtshaus, in dem zwei Fremde von den Stammgästen zunächst begafft, später tatsächlich kannibalisiert werden, entgrenzt sich bei ihr zu einem Midnight-Movie-Schocker in Schießbuden-Ästhetik. Stand bei Schwab das Spiel mit der Sprache im Zentrum, geht es bei Süßkow geradewegs in die Eingeweide exklusiver Mikrogesellschaften, die sich durch Abschottung und Einverleibung vermeintlicher Bedrohungen von außen stabilisieren. Ekel und Mitgefühl halten sich die Waage. Ein Abend, so präzise getaktet wie die Peristaltik eines Darmtrakts.
Falk Richter indes arbeitet weiter an seinem Theater der kritischen Autobiografie, wenn er den (ebenfalls großartig solierenden) Schauspieler Dimitrij Schaad kunstvoll zwischen Falk-Richter-Figur, auktorialem Erzähler und Eigenperspektive schillern lässt. „The Silence“, das die Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter und somit auch der bundesrepublikanischen Nachkriegs-Elterngeneration zum Thema hat, ist ein Stück, über das man immer weiter sprechen will – weil es so anknüpfungsfähig, offen und durchlässig ist, selbst dort, wo man sein Spezifisches in der eigenen Biographie gar nicht direkt wiederfinden mag. „The Silence“ ist – auch das vielleicht typisch für diesen Jahrgang – ein Abend, der zum Mitdenken und Nachvollziehen einlädt, ohne belehren zu wollen. Auch „Extra Life“ der Choreografin Gisèle Vienne spricht eine solche Einladung aus, obwohl man in ihrem enorm kunstvoll eingerichteten Raum der unterdrückten Erinnerungen an eine Missbrauchserfahrung nur mit beabsichtigtem Unbehagen verweilen kann. Vienne zeigt sich als Meisterin der Entäußerung innerer Zustände, wenn sich zwischen Trockeneis- und Laser-Landschaften die Verletzungen der Protagonist*innen allmählich abzeichnen. Im Raume lesen wir den Schmerz.
Toxische Verhältnisse sind es auch, die die beiden vermeintlich zeitgeistigsten Inszenierungen der diesjährigen Auswahl behandeln: Jette Steckel mit ihrem von einem glänzenden Ensemble rund um Wiebke Puls und Joachim Meyerhoff getragenen Münchner Tschechow-Update „Die Vaterlosen“. Und das Theaterhaus Jena, das sich dem theatralen Stimmungstrüber des vergangenen Frühjahrs schlechthin angenommen hat – der berüchtigten „Hundekot-Attacke“ eines Choreografen auf eine Tanzkritikerin. Ihren jeweiligen Gegenwarts-Check gehen die beiden Inszenierungen dabei von je unterschiedlichen Seiten an – Steckel unterlegt dem Klassiker eine Reflexion über die gar nicht nur mansplainenden Väter (oder selbst Vaterlosen) als „Dad Men Talking“; in Jena wird ein aktuelles Ereignis zum Anlass für eine so kluge wie anrührende Lebendsektion am verletzlichen Körper der Kunstproduktion. Gemein ist beiden aber, dass sie ihre Stoffe mit jenem Ernst angehen, aus dem allein der echte Spaß entstehen kann. Mit den zuvor Genannten und weiteren mehr stehen sie für ein Theaterjahr, dem an vielen Abenden gelang, sich ein Bild von unserer Gegenwart zu machen, ohne gleichzeitig den Krisen, Kriegen und sozialen Erosionen das Wort zu reden. Es ging eigensinnig zu im Theater. Voller Skepsis, Trauer, bösem Witz und offener Wunden. Doch ohnmächtig schien es nicht.
Janis El-Bira– Mitglied der Theatertreffen-Jury 2024